Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge
so wahnsinnig macht.«
Nachdem die Seesterne eine Weile in dem Netz gehangen hatten, fingen sie an zu stinken, weil sie nicht gründlich genug getrocknet worden waren, und Anita warf sie weg. Winnie stand da und sah zu, wie ihre Mutter sich über das Verandageländer lehnte und die Seesterne einen nach dem anderen ins Meer zurückwarf. Sie trug ein blassgrünes Kleid, das der Wind an ihren Körper drückte, so dass ihr Busen sich abzeichnete, die schmale Taille, die langen nackten Beine; ihr Spann wölbte sich, wenn sie sich auf die Zehenspitzen stellte und ausholte. Winnie hörte einen unterdrückten kleinen Laut aus ihrer Kehle kommen, als sie den letzten warf.
»Schätzchen«, sagte Anita jetzt zu Julie, »geh duschen, dann fühlst du dich gleich viel besser.«
»Ich mag mich nicht duschen«, sagte Julie, immer noch an den Türpfosten gelehnt, und wischte sich mit dem Ärmel über den Mund.
»Ach, und warum nicht?«, fragte ihre Mutter. »Was ist der Unterschied zwischen in der Küche stehen und heulen und unter der Dusche stehen und heulen?« Sie stemmte die Hand in die Hüfte, und Winnie sah ihre Fingerspitzen mit den perfekt lackierten rosa Nägeln.
»Weil ich mich nicht ausziehen mag. Ich will meinen Körper nicht sehen.«
Anitas Kinn wurde kantig, und sie nickte mehrmals hintereinander kaum wahrnehmbar. »Winnifred, häng den Ärmel nicht in die Flamme. Noch eine Katastrophe, und ich garantiere für nichts.«
Ihr Haus hatte keine Dusche und kein Klo wie die Häuser von anderen Leuten. Vom Flur ging eine Duschkabine ab, und gegenüber davon war ein Schrank mit einem Chemieklo, einer Art Plastikfass, das ein surrendes Geräusch von sich gab, wenn man die Spültaste drückte. Dieser Schrank hatte keine Tür, nur einen Vorhang, den man zuzog. Wenn Anita vorbeiging, sagte sie manchmal: »Puh! Wer hatte da gerade Verdauung?« Wenn man duschen wollte, bat man die anderen, nicht in den Flur zu kommen, denn sonst musste man sich in der Duschkabine ausziehen, die Kleider hinaus in den Flur werfen und dann an die Metallwand gepresst warten, während das Wasser sich erhitzte.
Julie verließ die Küche, und wenig später hörte man das Duschwasser spritzen. »Ich dusche!«, rief Julie laut. »Also bleibt, wo ihr seid.«
»Niemand will dir was weggucken«, rief Anita zurück. Winnie deckte den Tisch und schenkte Saft in Gläser. Als die Dusche abgedreht wurde, konnten sie alle Julie weinen hören.
»Ich geh bald die Wände hoch«, sagte Anita und trommelte mit den Nägeln auf die Arbeitsplatte.
»Gib ihr noch Zeit«, sagte Jim. Er goss Pfannkuchenteig in die Pfanne.
»Zeit?«, wiederholte Anita und zeigte in Richtung Flur. »Jimmy, ich hab diesem Mädchen mein halbes Leben gegeben.«
»Na ja«, sagte Jim und zwinkerte Winnie zu.
»Na ja? Was soll das heißen, na ja! Ich krieg’s langsam richtig satt, weißt du das?«
»Deine Haare sehen toll aus, Mom«, sagte Winnie.
»Das will ich hoffen«, sagte Anita. »Da stecken zwei Monate Haushaltsgeld drin.«
Julie erschien wieder in der Küche, das Haar nass an den Kopf geklatscht, so dass es auf ihr rotes Sweatshirt tropfte und den Stoff an den Schultern dunkel färbte. Winnie sah ihren Vater einen Pfannkuchen wenden, der zu einem verbeulten J geformt war. »Ein J für mein Julie-Juwel«, sagte er zu Julie, und Winnie fragte sich, was eigentlich mit den Trauringen passiert war.
Die Limousine hatte für Spannungen gesorgt. Erst weigerte sich der Chauffeur, bis zum Haus zu fahren; er sagte, von einer Schotterstraße sei nie die Rede gewesen, und außerdem würden ihm die Zweige den Lack verkratzen. »Julie geht mir nicht durch den Dreck in ihrem gottverdammten Brautkleid«, sagte Anita zu ihrem Mann. »Du machst, dass dieser Kerl in seinem blöden Auto bis hierher fährt.« Die Limousine war Anitas Idee gewesen.
Jim, dessen Gesicht blankgeschrubbt und ganz rosig aussah über seinem geliehenen Smoking, trat vors Haus und redete mit dem Fahrer. Nach einer Weile ging er in den Keller und kam mit einer Heckenschere zurück. Dann verschwanden
er und der Chauffeur aus der Einfahrt, und wenige Minuten später fuhr die Limousine vor, mit dem winkenden Jim auf dem Beifahrersitz.
Plötzlich stand Bruce vor der Tür, grün um die Nase.
»Der Bräutigam darf die Braut vor der Hochzeit nicht sehen«, rief Anita aus dem Fenster. »Um Gottes willen, Bruce!« Sie rannte zur Tür, aber Bruce war schon drinnen, und als Anita sein Gesicht sah, brach sie mitten im Satz
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