Mit Blindheit Geschlagen
gibt es keine alten Nazis in der Justiz, im Staatsapparat, in der Regierung, in der Armee, auch nicht an den Universitäten, schon gar nicht an den Schulen Und wir kämpfen für den Frieden, für Abrüstung. Das alles wissen Sie doch auch.«
Natürlich wusste er es. Und er wusste, dass er sich entscheiden musste. Er schaute auf das Porträt von Feliks Dserschinski an der Wand. »Morgen«, flüsterte er. »Morgen sage ich es Ihnen.«
11
Als wäre nichts geschehen. Stachelmann erschien es seltsam, dass er über die Puppenbrücke lief, dann den Zebrastreifen überquerte vor der Apotheke am Holstentorteller und vorbei an den Betonklötzen auf dem Platz des ehemaligen Postgebäudes den Bahnhof erreichte. Er schaute sich um, vielleicht beschattete ihn die Polizei, um zu prüfen, ob er sich an die Auflage hielt. Womöglich hatte der Staatsanwalt ihn aus der U-Haft entlassen, damit er die Kripo auf eine Spur führte. Er grinste, da konnten sie lange hinter ihm herlaufen.
Er hatte gut geschlafen und fand die Vorstellung lustig, dass ihm einer hinterherlief. Als er auf Gleis 9 in den Waggon stieg, drehte er sich in der Tür blitzschnell um. Er hoffte, jemanden zu erwischen, der sich wegdrehte oder duckte, um nicht als Verfolger enttarnt zu werden. Aber da war niemand, der ihm auffiel.
Der Zug fuhr durch den Regen, Tropfen wandelten sich in Rinnsale, die der Fahrtwind über die Scheibe zog. Die Umrisse seines Gesichts spiegelten sich im Glas, Felder, Wiesen und Bäume wurden weichgezeichnet. Stachelmann überlegte, was er Anne mitbringen sollte, wenn er sie besuchte. Wie würde es sein? Er spürte die Aufregung und mahnte sich, nicht zu viel zu erwarten. Babykleidung, blau? Er lachte leise, wie albern.
Ein Handy zerstörte seinen Tagtraum. Ein modisch gekleideter junger Mann ihm gegenüber am Tisch redete lautstark mit seinem Büro. Es klang wichtigtuerisch. Dem Mann war es egal, dass alle im Abteil mithörten und er sie belästigte mit seinem Gerede.
Er traf Renate Breuer im Gang des Historischen Seminars, sie sah ihn anders an als sonst. Vielleicht wollte sie schauen, ob das Gefängnis ihn verändert hatte. »Ihr Seminar ist ausgefallen«, sagte sie. »Die Frau Derling konnte sie ja nicht vertreten.«
»Ja«, sagte er und ging in sein Zimmer.
Kaum saß er, klopfte es, in der Tür stand Bohming. Er gab Stachelmann die Hand und setzte sich auf die Ecke des Schreibtischs. »Wie steht’s?«
»Weiß ich nicht«, sagte Stachelmann. »Sicher ist nur, dass ich zu Unrecht in U-Haft war.«
»Gewiss«, sagte Bohming. Er öffnete den Mund, um noch etwas zu sagen, aber er schloss ihn wieder. Dann fragte er: »Und wie ist das so im Gefängnis?«
»Ungemütlich.«
»Ja, bestimmt. Also, Josef, versteh das nicht falsch, aber diese Meyerbeck-Sache …« Er stand auf und ging ein paar Schritte. Er blieb vor dem Fenster stehen und schaute hinaus. »Also, diese Meyerbeck-Sache, die muss ich jemand anderem geben. Du verstehst das doch, nicht wahr?«
Stachelmann begriff, was Bohming meinte. Wir können dem Herrn Meyerbeck keinen zumuten, der im Gefängnis saß und weiterhin des Mordes verdächtigt wird. Am schlimmsten wäre es, Stachelmann würde verhaftet, während er im Firmenarchiv recherchierte. Das wäre nicht gut für den Ruf der Firma. »Klar«, sagte Stachelmann, »ich verstehe alles.«
Bohming drehte sich um und musterte Stachelmann scharf, als wollte er ergründen, ob sich in der Antwort etwas versteckte. »Schön, Meyerbeck hat bestimmt längst gelesen, was im Abendblatt stand.«
Stachelmann erschrak. »Was stand im Abendblatt?«
»Ach, das weißt du nicht?«
»Nein.«
»Ein Artikel über den Mord an Wolf Griesbach.«
»Und offenbar etwas über mich.«
»Ja, aber ohne Namen. Dass die Polizei einen Kollegen am Historischen Seminar verdächtigt. Ein kleiner Artikel, aber mir reicht es schon, dass überhaupt was geschrieben wurde. Wenn wir Pech haben, kommen morgen die Schreihälse von der Boulevardpresse. Mord an der Uni! Eifersuchtsdrama unter Historikern? Mein Gott, normalerweise geht mich das ja nichts an, aber warum musstest du mit der Frau des neuen Kollegen ins Bett steigen?«
»Steht das auch in dem Artikel?«
»In etwa.«
»Woher wissen die das?«
»Die werden ihre Quellen bei der Polizei haben.« Er rieb den Zeigefinger gegen den Daumen.
Das Telefon klingelte, es war Oppums Büro. Stachelmann sagte, er rufe zurück.
»Kann ich den Artikel mal lesen?«
»Frau Breuer bringt ihn dir. Tut mir
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