Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mit Blindheit Geschlagen

Mit Blindheit Geschlagen

Titel: Mit Blindheit Geschlagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Ditfurth
Vom Netzwerk:
Stell dir mal vor, seine Spielkameraden würden ihn Jossi nennen oder Sepp, grässlich. Und über Maria schweige ich taktvoll.« Ihre Stimme klang schwach, aber glücklich.
    »Glückwunsch«, sagte Stachelmann. Er war verwirrt, wusste nicht, was er sonst sagen sollte. »Kann ich dich besuchen?«
    »Das lohnt sich nicht. Ich nehm hier bald Reißaus, auch wenn die Herren und Damen Doctores den Kopf schütteln.«
    »Dann besuch ich dich zu Hause.«
    »Mach das, wenn du das Geschrei erträgst. Ich ruf dich an, wenn die Flucht gelungen ist.«
    »Ich könnte ja die Verfolger ablenken, auf eine falsche Spur führen.«
    »Du würdest es hinkriegen, dass ich über dich stolpere, wenn mir die Meute auf den Fersen ist. Bleib schön zu Hause und warte auf Mamas Anruf.«
    Als sie aufgelegt hatte, war der Schreck über die Musik entrückt. Er freute sich über Annes Glück, sie hatte ihn daran beteiligt. Er genoss die Wärme, wollte sie nicht weichen lassen. Hoffentlich würde sie bald anrufen, um ihn einzuladen. Bestimmt war der Wahn bald vorbei, die Polizei würde den Mörder finden, und diesmal würde er Anne gewinnen. Er fühlte sich leicht. Alles wird gut. Alles wird gut.
    Als er am Abend im Bett lag, stellte er sich vor, wie Annes Baby aussehen mochte. Babys konnten so hässlich sein.
    ***
    »Ich mach Ihnen einen Vorschlag«, sagte der Vernehmer.
    »Wenn Sie klug sind, nehmen Sie ihn an. Wenn nicht, gehen Sie für ein paar Jahre ins Gefängnis, und das Studium hat sich erledigt. Wenn Sie wieder rauskommen, werden Sie Hilfsarbeiter. Glauben Sie nicht, dass wir Sie in den Westen lassen. Sie nicht.«
    Der Gefangene hob den Kopf. Er war müde, hatte längst vergessen, wie viele Verhöre er mitgemacht hatte. Wie oft war er durch die Gänge geführt worden? »Gesicht zur Wand!«
    Es schien ihm, als habe der Vernehmer ewig Zeit. Ab und zu waren sie zu zweit; der, der dazukam, drohte und schimpfte. Natürlich durchschaute der Gefangene das Spiel. Aber irgendwann war es gleichgültig, ob es ein Spiel war. Er fühlte sich hingezogen zu seinem Vernehmer.
    »Sie sind doch Sozialist«, sagte der Vernehmer. »Waren Mitglied der FDJ. Wissenschaftler. Da tritt man irgendwann auch der Partei bei, das war Ihnen doch klar.«
    Es war ihm klar gewesen. Der Gang der Dinge. Als Gesellschaftswissenschaftler trat man der Partei bei. Als Historiker allemal. Die Gesetze der Geschichte, Basis und Überbau, Klassenkampf, der Widerspruch von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, der historische Materialismus begründeten den Sieg des Sozialismus. Wenn man diese Wissenschaft studiert und später lehren will, dann wird man Genosse, eher früher als später. Und dann kämpft man unter Leitung der Partei gegen die bürgerlichen und imperialistischen Historiker.
    »Aber Ihr Sozialismus ist ein anderer als meiner.«
    Der Vernehmer nickte. »Das verstehe ich gut. Der Sozialismus ist der Übergang zum Kommunismus. Unser Sozialismus hat Fehler, auch ich bin nicht mit allem einverstanden. Aber ich sehe ein Ziel, und für das Ziel müssen wir Opfer bringen. Vielleicht kommen erst spätere Generationen in den Genuss des Kommunismus. Unsere Aufgabe ist es, dafür zu sorgen. Wir sind an unseren geschichtlichen Platz gestellt, das kann man sich nicht aussuchen. Viele Gebrechen unseres Sozialismus wurzeln im Kampf der Systeme. Wir müssen uns verteidigen gegen eine Vielfalt von Angriffen. Davon kriegen Sie als Bürger unserer Republik nur wenig mit. Wir schützen Sie. Das Ministerium für Staatssicherheit spürt die Infiltrationen und Diversionen auf. Oft gehen Gutwillige den Feinden auf den Leim, solche Leute wie Sie zum Beispiel.«
    Der Vernehmer stand auf und schaute zum Fenster hinaus. Der Gefangene sah den breiten Rücken des Manns. »Wenn ich Katholik wäre, würde ich sagen, wir kämpfen um Ihre Seele.«
    »Der Vergleich gefällt mir gut. Sie sind genauso intolerant«, sagte der Gefangene.
    »Wir sind genauso überzeugt von unserer Idee«, erwiderte der Vernehmer.
    Der Gefangene saß auf dem Hocker und schwieg. Er dachte nach, versuchte, die Müdigkeit zu verdrängen. Es war diesmal ein anderes Verhör, mehr eine Diskussion. Sie wollten es nun abschließen. Sie wollten, dass er sich entschied. Für sie oder für Bautzen.
    »Wir machen Fehler, gewiss. Später werden wir über manches den Kopf schütteln. Aber wir haben keine Zeit, über Fehler zu diskutieren. Wenn wir damit anfangen, laden wir den Feind ein. Wie viele Fehler wir auch machen, bei uns

Weitere Kostenlose Bücher