Mit Blindheit Geschlagen
im Knast gesessen. Ich glaube, das beantwortet deine Frage.«
Die Frau lief rot an und drehte sich weg. Sie ging, ohne ein Wort zu sagen.
Zum Mittagessen ging er in die Mensa, auch dort Büchertische und Flugblattverteiler. Nach dem Essen setzte er sich in die Cafeteria und dachte nach über das Gespräch, das er am Nachmittag führen würde. Er war aufgeregt. Immer wieder schaute er auf die Uhr. Zu früh setzte er sich in die S-Bahn, am Rathaus Schöneberg stieg er aus. Er ging spazieren, um die Zeit totzuschlagen. Dann endlich war es so weit. An der Pforte sagte er: »Ich bin mit Herrn Dreilich verabredet, das ist der persönliche Referent des Bürgermeisters.« Als er es sagte, wusste er, dass er einen Fehler machte.
12
Am frühen Nachmittag wechselte ein Pannenhelfer die Reifen. »Da hat jemand mit einem Messer oder einem spitzen Schraubenzieher reingestochen«, sagte der Mann.
»Klarer Fall von Vandalismus, das gibt’s immer öfter.« Die Sache kostete Stachelmann hundertzwanzig Euro, es waren runderneuerte Reifen. Und er war jetzt Mitglied eines Automobilclubs. Jetzt finanzierst du auch noch die Leute, denen das Benzin den Verstand geraubt hat, dachte er. Es war der dritte Notdienst, den er an diesem Tag gerufen hatte. Er staunte über den Fatalismus, der sich seiner bemächtigte.
Er fuhr los, ohne sich vorher erkundigt zu haben, ob Frau Ortlep noch in Schönberg lebte. Es war auch eine Flucht, unterwegs schaute er oft in den Spiegel. Er war froh, nicht zu Hause zu sein, und überlegte, ob er zu Anne ziehen sollte, aber er würde sie damit in die Sache hineinziehen, und der Gedanke an endloses Babygeschrei schreckte ihn ab.
Auch wenn man die Grenze kurz hinter Schlutup nicht mehr erkennen konnte, er sah an den Häusern, dass er in Ostdeutschland war. Bald tauchte die erste LPG auf, die ewig gleichen flachen Riesenställe und der normierte einstöckige Verwaltungsbau. Der Schrott von Landwirtschaftsmaschinen stand auf dem Hof, Putz blätterte ab. In Seimsdorf waren die Fassaden von Plattenbauten verschönert worden. Stachelmann fragte sich, wie die Wohnungen innen aussehen mochten. Ob immer noch die Tür des Badezimmers unten gekürzt war, um Luft hineinzulassen. Dann ging es vorbei an der Zufahrt der Mülldeponie, die Schönberg bekannt gemacht hatte. Früher luden hier westdeutsche Laster westdeutschen Müll ab, damit die DDR westdeutsches Geld verdiente. Nach Schönberg brachten auch DDR-Laster Müll, und oft wurde nicht genau hingeschaut, was sie da abluden. In Schönberg zu leben, erforderte Mut. Stachelmann hoffte, Frau Ortlep hatte ihn nicht verloren.
Hinter einem Containerlaster schlich er hinein in die Stadt, bis er links ein Postamt sah. Auf dem Parkplatz davor stellte er das Auto ab. Im Postamt fand er das Telefonbuch. Er blätterte, unter O stand Ortlep, Dr. H., praktische Ärztin. Er wählte die Nummer auf dem Handy. Nach kurzer Zeit meldete sich ein Anrufbeantworter, eine Frauenstimme bat, man solle seine Nummer hinterlassen. Er notierte die Adresse und verließ das Postamt. Draußen fragte er einen Mann auf einer Bank nach dem Schlauentrift. »Nur ein paar Meter, können Sie nicht verfehlen, das ist die nächste Querstraße zwischen der Fritz-Reuter- und der Marienstraße.« Er zeigte mit dem Finger die Richtung. Stachelmann folgte mit dem Auto der Wegbeschreibung und fand den Schiauentrift. Er parkte den Wagen vor dem dreistöckigen Haus 3a zwischen einem Wartburg-Kombi und einem Toyota. Neben dem Eingang hing auf schmutzig braunem Putz ein Praxisschild mit Rostflecken, Dr. H. Ortlep, praktischer Arzt. Stachelmann erinnerte sich, es gab in der DDR nur männliche Dienst- und Berufsbezeichnungen. Frau Minister Honecker. Daran hatte sich hier also nichts geändert. Er stieg aus und betrat den Hausflur. An der Wand Briefkästen, zwei waren eingedellt und trugen kein Namensschild. An einer Tür stand Praxis. Er fand keine Klingel, er klopfte. Nichts rührte sich. Als er sich abwendete, hörte er ein Geräusch. Er wartete, die Tür öffnete sich. Eine Frau schaute ihn an.
»Guten Tag, Sie sind Frau Dr. Ortlep?«
Die Frau nickte, sie wirkte verschlafen. »Ich habe aber jetzt keine Sprechstunde.«
»Und ich bin kein Patient.«
Sie lächelte. »So genau weiß man das ja nicht.«
Sie war ihm sympathisch, schaute ihn offen an durch eine randlose Brille. Er schätzte, dass sie so alt war wie er, vielleicht ein, zwei Jahre älter.
»Es geht um Ihre Flucht«, sagte er.
Sie zog die Augenbrauen
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