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Mit Blindheit Geschlagen

Mit Blindheit Geschlagen

Titel: Mit Blindheit Geschlagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Ditfurth
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guten Eindruck auf die anderen Ärzte, so was spricht sich rum.«
    »War denn Ihr Verlobter der einzige Grund abzuhauen?«
    »Keineswegs, mich hat die SED genervt, diese ewigen Bekenntnisse zu irgendwas, die Selbstbeweihräucherung der Partei der Arbeiterklasse, die alles besser wusste. Diese Tattergreise, die sich preisen ließen. Die Spitzelei, und dass das Land zerfiel, die Häuser, die Fabriken wie die Eisenbahn. Die ganze DDR war eine Langsamfahrstrecke. Schlange stehen statt arbeiten. Und die Partei fand, es wurde alles immer besser. Es war ein lächerlicher Staat. Aber mein Leben war nicht lächerlich. Mich haben sie in Ruhe gelassen, ich hatte eine vernünftige Wohnung und habe einen wunderbaren Beruf. Wer weiß, was mir im Westen geblüht hätte? Mir reicht, was ich heute erlebe. Ich sage nur KV.«
    Stachelmann schaute sie fragend an, er wollte sie nicht unterbrechen.
    »Kassenärztliche Vereinigung.«
    »Aha.«
    »Das verstehen Sie nicht.« Sie lachte. »Ich übrigens auch nicht. Ich arbeite mich tot und verdiene immer weniger. Hier in Mecklenburg-Vorpommern gibt’s immer mehr alte Leute und immer weniger Ärzte. Die lieben Kolleginnen und Kollegen werfen das Handtuch oder versuchen im Westen unterzukommen. Heute hauen viel mehr ab als damals.« Sie schaute ihn bitter an. »Aber was rede ich. Tut mir Leid, Sie haben andere Sorgen. Vor allem haben Sie Schmerzen. Man sieht das in den Augen.«
    Stachelmann nickte. »Arthritis.«
    »Sind Sie in Behandlung? Es gibt da manches Neue.«
    »Ja, Behandlung schon, aber die Wunderdroge haben sie noch nicht erfunden. Jedenfalls nicht für mich.«
    »Es trifft immer die Falschen. Vor allem sterben immer die Falschen. Finden Sie nicht auch, dass gute Menschen jünger sterben als schlechte?«
    Stachelmann dachte an seinen Vater. »Eine Untersuchung darüber kenne ich nicht«, sagte er. »Und ich weiß nicht, wer die Falschen sind und wer die Richtigen.«
    »Lassen wir das, Schicksal lässt sich statistisch wohl nicht erfassen. Ich denke nur, schlechte Menschen sind zäh. Aber Sie haben andere Sorgen.«
    »Leider ja. Wenn auch der Kurier verraten wurde, dann sollte man doch annehmen, es gab einen Verräter in der Fluchthilfeorganisation. Natürlich sind andere Möglichkeiten denkbar, doch sie sind unwahrscheinlich.«
    »Gewiss, aber ausschließen würde ich an Ihrer Stelle nichts und niemanden. Es waren komische Zeiten.«
    »Sie auch nicht?« »Was auch nicht?« »Nicht ausschließen.« Ihre Augen lachten. »Natürlich nicht. Zumal ich gerne morde, jedenfalls in Gedanken.«
    »Mich haben Sie immerhin am Leben gelassen.«
    Auf der Fahrt nach Hause fragte sich Stachelmann, ob er abgehauen wäre, hätte er in der DDR gelebt. Er verwarf die Gedanken daran. Wenn man nicht dort aufgewachsen war, waren solche Überlegungen abwegig. Kurz vor Lübeck bremste ihn der Verkehr. Es war Freitag, die Leute kamen von der Arbeit, andere kauften ein fürs Wochenende. Kaum hatte er das Ortsschild passiert, kehrte die Angst zurück. War er wieder eingedrungen in seine Wohnung? Stachelmann fühlte sich ohnmächtig, ausgeliefert. Es war, als beherrschte ihn eine fremde Macht, die tun und lassen konnte, was sie wollte. Was sie wollte, erschien Stachelmann eindeutig. Er sollte als Mörder dastehen. Nur Griesbachs Mörder konnte dies wollen. Was würde er tun, wenn er sein Ziel nicht erreichte? Würde er Stachelmann auch umbringen?
    Er quälte sich durch den Verkehr und ertappte sich dabei, dass er immer wieder in den Rückspiegel schaute. Der Mann in dem Opel hinter ihm, der konnte es sein. Aber es schlichen Hunderte von Autos hinter ihm und vor ihm, und der Opel war ihm bisher nicht aufgefallen. Bleib ruhig, ermahnte er sich. Werd nicht wieder verrückt wie vor zwei Jahren, als du in Berlin ausgerastet bist, obwohl dir wohl niemand folgte. Die Angst packte ihn fester, als er über die Burgtorbrücke fuhr. In der Beckergrube stand er eine Weile, die Ampel zur Untertrave staute den Verkehr. Er war vor dem Wullenwever, nicht nur Lübecks bestem Restaurant, in dem er damals seine Anstellung an der Hamburger Uni gefeiert hatte, allein, im Garten, neben einem großen Rosmarinstrauch. Die Ampel schaltete auf Grün, aber er schaffte es nicht. Er überlegte, ob er woanders hinfahren sollte, seine Mutter besuchen. Aber dann sagte er sich, irgendwann musst du nach Hause. Es hat keinen Sinn auszuweichen. Die Ampel schaltete auf Grün; als sie wieder gelb leuchtete, querte er die Abzweigung und stand bald

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