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Mit Blut signiert - Ein Caravaggio-Roman

Mit Blut signiert - Ein Caravaggio-Roman

Titel: Mit Blut signiert - Ein Caravaggio-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matt Beynon Rees
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die Linie ihres Schlüsselbeins, zu dem ihr Kinn sich neigte.
    Noch ein paar Ritzer in die Grundierung, um die Stellung der Modelle zu markieren; dann trat er aus dem Verschlag. Mit Kreide umfuhr er Lenas Fuß, damit er wusste, wo sie bei der nächsten Sitzung stehen musste, und mit den Knien der alten Leute verfuhr er ebenso. Dann schickte er das Kind auf den Hof, um mit den Bettlern zu spielen, während er den seidigen Ton von Lenas Gesicht auftrug und ihre Nase und Augen beschattete. Nach einer Weile hörte er ein leises Stöhnen. «Tut dir der Nacken weh?»
    Sie lächelte. «Ja. Darf ich mal sehen?»
    «Da gibt es noch nicht viel zu sehen.»
    Sie wackelte mit den Hüften. «Wie sieht das Heilige Haus von Loreto aus?»
    «Es sieht wie dein Haus aus.»
    Sie wandte den Kopf lächelnd und misstrauisch zur Seite, weil sie mit einem Trick rechnete. Er schaute auf ihr Abbild, wie es auf seine Leinwand geworfen wurde. Er wollte sie hinter den Vorhang holen.
Wo niemand uns sieht. Außer meiner Madonna.
    «Du bist die Jungfrau. Du wohnst genau da, wo du wohnst. Da unten, wo der Putz von der Wand fällt und der Türrahmen schadhaft ist», sagte er. «Das ist der Ort, an dem Christus aufgewachsen ist. Glaubst du, er hätte in einem Palast gewohnt? Oder in einer Kirche? War er etwa ein Prinz?»
    «Er war Zimmermann.»
    «Wo leben Zimmerleute? Im Quirinalpalast?»
    «Es gibt einen in unserer Straße.»
    Er legte den Pinsel und die Palette ab und ging zu ihr. Er nahm ihre Hände. Mit den Fingerspitzen rieb sie über die Ölflecken auf seiner Handfläche. Er hielt den Atem an.
So fühlt es sich an, wenn man eine Botschaft vom Himmel bekommt. Sie wäre nicht in Italienisch oder Latein. Sie käme als Empfindung, und man würde sie sofort verstehen. Vor einem großen Kunstwerk empfinde ich das Gleiche. Ich
spüre
alles, bevor ich es
weiß.
    Er schlug den Vorhang zurück, sodass sie die Grundelemente der Komposition auf der Leinwand erkennen konnte. «Ich mache dieses Gemälde nicht so, wie andere die Madonna von Loreto gemalt haben. Ich will nicht, dass die Leute sagen: ‹Ah, die Jungfrau kann fliegen, und oh, was für ein schönes Haus sie hatte.› Ich will, dass sie die ganze Reinheit der Seele der Madonna erkennen und von der Liebe, die sie der Welt durch ihren Sohn schenkte, erfüllt werden.» Er trat näher an sie heran. Auf ihrem Gesicht lag Erwartung.
Sie weiß, was ich sagen werde. Sie empfindet das Gleiche. Sie ist bei mir.
«Um so etwas malen zu können, muss ich es spüren. Und ich spüre es. Weil ich dich liebe.»
    Lenas Blick wanderte zwischen ihrem eigenen, unvollendeten und leblosen Bild auf der Leinwand und dem lebendigen Gesicht des Mannes neben ihr hin und her.
    «Wenn ich je wieder etwas malen werde, das anzuschauen sich lohnt, dann nur deshalb, weil ich an dich denke.»
    Sie senkte den Blick und berührte mit der Schulter die seine.«Aber ich bin keine, du weißt schon … Es gab da ein oder zwei Herren …»
    «Ich habe nicht gesagt, dass du die Jungfrau
bist
.» Er hob ihr Kinn mit einem Finger an. «In dir sehe ich die Idee von ihr, und du machst diese Idee lebendig. Ohne dich gibt es sie nicht.»
    Mit den Lippen berührte er ihren Mund.
    ∗
    Del Monte sah zu, wie er den schmutzigen Treppenabsatz betonte, auf dem die Jungfrau sich mit dem Kind herumdrehte. Der Kardinal lüftete sein Barett und kratzte sich am Kopf.
    «Baglione und die Akademie werden das nicht mögen», sagte er.
    «Wenn sie es mögen würden, würde ich es mit meinem Degen zerfetzen.» Caravaggio beugte sich dicht an die Leinwand vor.
    Del Monte nahm das ganze überlebensgroße Bild in sich auf. «Es ist herrlich», murmelte er.
    «Aber?»
    «Die Kirche hat Richtlinien für die Darstellung religiöser Themen.»
    «Seit wann nehmt
Ihr
auf dergleichen Rücksicht?»
    «Versteht mich nicht falsch. Manche meinen, ich könnte eines Tages Papst werden – aber ich preise die Kunst als größte Spiegelung des göttlichen Lichts auf Erden.»
    Caravaggio steckte sich den Pinsel quer zwischen die Zähne und griff zu einem anderen in einem Topf am Fuß der Staffelei. «Ja und?»
    «Eure Madonna hat dreckige Zehennägel, Michele. Um die Augen herum hat ihre Haut ein paar Flecken. Das Heilige Haus, für das verschiedene Päpste enorme Summen aufgebracht haben, wird hier als Elendsquartier dargestellt.»
    «Christus war ein armer Mann.»
    «Aber der Heilige Vater nicht.»
    Caravaggio reckte sich. Er behielt seine letzten Pinselstriche im Blick,

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