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Mit deinen Augen

Mit deinen Augen

Titel: Mit deinen Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kaui Hart Hemmings
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streuen!
    Hohe Wellen türmen sich in der Nähe des Windsacks, brechen aber nicht. Eine geht unter uns durch, das Kanu wird zum Gipfel getragen und kommt dann ziemlich unsanft wieder herunter. Der Bug schneidet durch das Wasser, und als wir uns der nächsten Welle nähern, die noch größer scheint als die letzte, klemme ich die Asche fester zwischen die Beine. Scottie hört auf zu paddeln.
    »Paddel weiter«, rufe ich, und meine Stimme klingt nervös. Wir brauchen Schwung, um über die Welle hinüberzukommen, damit sie uns nicht in Richtung Strand mitnimmt.Wir klettern die Welle hoch, Gischt spritzt auf, sodass ich nichts sehen kann, und dann sausen wir den gebogenen Wellenrücken hinunter und schlagen so hart auf, dass es uns von den Sitzen hebt.
    »Wir müssen hier weg«, sage ich.
    Die Mädchen sind still, und ich merke, dass sie Angst haben. Sie tauchen ihre Paddel tief ein und schaufeln so viel Wasser weg, wie ihre kleinen Körper schaffen können. Ihre Handgelenke sind im Wasser, und sie paddeln schnell. Wir fahren weiter als nötig, sodass wir ein ganzes Stück hinter der Brandungszone sind. Das Wasser ist noch dunkler, und die Felsen auf dem Grund sehen aus wie schlafende Meereskreaturen. Es scheint alles viel zu dunkel, zu kalt und zu einsam, um hier bis in Ewigkeit zu ruhen, aber ich sage nichts.
    Die Mädchen paddeln nicht mehr. Ich schaue hinüber zum Strand von Waikiki. Er scheint jedes Mal anders, wenn ich ihn sehe, obwohl er sich eigentlich nicht verändert: viele Menschen, aquamarinblaues Wasser, Surfer, die auf den Wellen reiten, der Sand so weiß wie feinstes Porzellan. Aber immer bedeutet der Strand für mich etwas anderes. Heute bedeutet er Joanie . Es ist Joanies Strand.
    Ich nehme den Beutel. Wir haben eine kleine silberne Schaufel dazubekommen, die ich jetzt in der Hand halte. Ich starre darauf, als wäre sie ein Scherzartikel.
    Ich habe mir genau überlegt, wie wir das machen.
    »Alex«, sage ich, »komm näher zu deiner Schwester. Vielleicht kannst du dich auf den Ausleger setzen.«
    Sie dreht sich um, klettert über ihren Sitz und steht im Kanu, hält sich aber am Rand fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Ihre nassen Haare hat sie irgendwie auf dem Kopf festgesteckt, sodass sie aussehen wie ein Bienenkorb, was mich an das Riff erinnert.
    »Hier«, sage ich, halte den Beutel auf und reiche Alex die kleine Schaufel. Sie zögert kurz, dann nimmt sie das silberne Ding, ihre Hand taucht in den Beutel, und gleich darauf befördert sie sandige Asche ans Tageslicht. Ein Teil fliegt gleich davon.Wir schauen den Flocken nach, sie bewegen sich wie Rauch, und dann kippt Alex die kleine Schaufel nach unten, sodass der ganz Rest auf einmal auf dem Wasser landet, sich auftürmt, bis die Asche langsam nass und dunkel wird und schließlich versinkt.
    Alex gibt die Silberschaufel an Scottie weiter, und ich halte ihr den Beutel hin. Zu meiner Überraschung nimmt Scottie die Schaufel ohne große Umstände und rührt damit in der Asche, als würde sie einen Preis suchen. Ich hätte erwartet, sie würde davor zurückscheuen. Sie holt ein Häufchen Asche heraus, und mit einer leichten Drehung des Handgelenks schnippt sie die Schaufel, sodass sie Asche durch die Luft fliegt, bevor sie im Wasser landet. Wir schauen nach unten, und als wir nichts mehr sehen können, blicken die Mädchen mich an. Scottie klappert mit den Zähnen, sie hat am ganzen Körper eine Gänsehaut. Die beiden stehen in dem schmalen Kanu und müssen sich immer wieder festhalten, wenn kleine Wellen unser Boot auf und ab schaukeln. Ich denke daran, wie viel Asche wohl schon hinter der Brandungszone von Waikiki verstreut wurde, ich denke an all die Blumen, die für die Verstorbenen ins Wasser geworfen werden. Wo geht das alles hin? Ich tauche die Schaufel in den Beutel, und ich spüre Joanies Gewicht. Ich werfe die Asche ins Meer, und mich packt ein körperlicher Schmerz. Mein Hals tut weh, meine Arme, mein Magen. Ich weiß nicht, was ich machen würde, wenn die Mädchen jetzt nicht da wären. Ich kann sie nicht ansehen, ohne dass mir schwindelig wird. Ich weiß, dass sie weinen. Ich kann sie nicht ansehen! Wenn ich sie ansehe, breche ich zusammen. Ich nehme den Beutel und drehe ihn um, und es kommt so viel Asche auf einmal heraus, dass man hört, wie sie auf dem Wasser aufkommt. Wir schauen zu, wie sie versinkt, die graue Asche, die aussieht wie grober Sand. Die Mädchen werfen vier Plumeria-Leis ins Wasser, und wir folgen ihnen eine

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