Mit deinen Augen
Wir gehen zu der Gittertür, und ich sehe Scottie fragend an.Vielleicht gibt sie mir ja einen Hinweis. Immer, wenn ich denke, ich habe sie verstanden, kommt sie mit der nächsten Überraschung daher.Technisch gesehen haben wir das Problem jetzt aus der Welt geschafft, aber es ist trotzdem noch da. Scottie war gemein, und ich verstehe nicht ganz, warum. Ich weiß nicht, ob es ein alterstypisches Phänomen ist oder ein Symptom für etwas wesentlich Komplexeres.
»Ich muss zu Hause verschiedene Dinge erledigen«, sage ich zu Scottie, während wir unsere Schuhe anziehen. »Aber Esther sagt, du musst in irgendeinen Kurs. Stimmbildung oder so was.«
»Stimmbildung ist doof«, sagt sie. »Esther soll mit mir an den Strand. Das hast du doch gesagt.«
Ich schaue nach Mrs. Higgins, damit wir uns verabschieden können. Ich knie mich hin, um meine Schnürsenkel zu binden. Da unten befinde ich mich in einem Meer aus Schuhen. Mrs. Higgins besitzt viele Sandalen mit abgelaufenen Sohlen. Alle haben niedrige Absätze, nicht höher als ein halber Daumen. Was bringt das? Aus irgendeinem Grund nehme ich so einen Schuh in die Hand. Bei Joanie waren die Absätze manchmal so hoch wie eine Spanne.
Ich frage mich, ob ich, wenn Joanie vor mir stirbt, je wieder mit einer Frau zusammen sein will. Ich kann es mir nicht vorstellen, die ganzen Vorbereitungsstadien noch einmal durchzumachen - die Gespräche, die Anekdoten, das Essengehen. Ich müsste mit dieser Frau alle möglichen Orte besuchen, meine Geschichte erläutern,Witze reißen, Komplimente flüstern, Fürze verkneifen. Ich müsste ihr sagen, dass ich Witwer bin. Ich bin überzeugt, dass Joanie niemals eine Affäre haben würde. Es ist einfach alles viel zu anstrengend.
Mrs. Higgins steht vor mir. Ich stelle den Schuh weg. Sie mustert mich so empört, dass ich schon befürchte, sie wird mir gleich einen Tritt verpassen.
»Viel Glück bei dem Verkauf«, sagt sie. Ich stehe auf und schüttle den Kopf. Sie ist also gar nicht wegen Scotties Verhalten sauer! Nein, sie ist sauer auf Scottie wegen ihrer Herkunft.
»Was passiert jetzt?«, fragt sie. »Weshalb bekommen Sie schon wieder so viel Geld?«
»Möchten Sie es wirklich wissen?« Ich stehe direkt vor ihr und schaue ihr ins Gesicht. Sie weicht einen Schritt zurück.
»Klar«, sagt sie.
»Dad«, jault Scottie. »Ich will gehen!«
Ich räuspere mich. »Also dann«, beginne ich. »Mein Urgroßvater war Edward King. Seine Eltern waren Missionare, aber er schlug einen anderen Weg ein. Er wurde Banker und später der leitende Finanzberater von König Kal kaua. Er verwaltete den Besitz von Prinzessin Kekipi, der letzten direkten Nachfahrin von König Kamehameha.«
Ich mache eine Pause, in der Hoffnung, dass sie das Interesse verloren haben könnte, aber sie hebt die Augenbrauen und wartet, dass ich weiterrede.
»Soll ich mein Notizbuch holen und es ihr zeigen?«, fragt Scottie.
»Nein«, sage ich.
»Doch«, sagt Mrs. Higgins.
Scottie öffnet die Gittertür und läuft zum Auto.
»Okay, wo waren wir … Kekipi sollte ihren Bruder heiraten, eine eigenartige Tradition im hawaiischen Königshaus. Iih. Doch gerade, als die Bande geknüpft werden sollten, begann Kekipi eine Affäre mit ihrem Vermögensverwalter Edward, und die beiden haben wenig später geheiratet. Und dann kam auch schon bald die Annexion. Schon deshalb war es eine clevere Entscheidung, einen Geschäftsmann zu heiraten. Jedenfalls waren sie ganz schön wohlhabend, und als eine andere Prinzessin starb, hinterließ sie Kekipi neben ihrem Vermögen noch dreihunderttausend Acres Land auf Kauai. Kekipi starb zuerst. Edward bekam alles. Dann richtete Edward 1920 einen Fonds ein, starb, und wir bekamen alles.«
Scottie ist wieder da und schlägt ihr Heft auf. Sie hat aus drei alten Büchern über Lokalgeschichte mehrere Seiten herausgerissen, ehe ich sie daran hindern konnte, und die hat sie in das Heft geklebt, weshalb es jetzt wie eine Zederntruhe duftet. Da ist Edward, ernst und mit hohlem Blick. Er trägt kniehohe Stiefel, und auf einem Tisch hinter ihm liegt sein Zylinder. Und dann Kekipi - der Name bedeutet so viel wie »Rebell« -, Kekipi mit dem flachen, runden braunen Gesicht. Und den buschigen Augenbrauen. Wenn ich ein Bild von ihr sehe, denke ich immer, dass wir uns bestimmt gut verstanden hätten. Und ob ich will oder nicht, ich muss jedes Mal grinsen.
Mrs. Higgins beugt sich über die Bilder. »Und dann?«, fragt sie.
»Mein Vater ist letztes Jahr gestorben.
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