Mit deinen Augen
ein höheres Angebot nimmt, das von außerhalb kommt, erleichtert das vielleicht den Übergang, und es werden keine Prozesse geführt. Ich habe nämlich keine Lust, mich irgendwann später noch einmal mit dieser Problematik auseinanderzusetzen.
Ich lese alles sehr sorgfältig durch. Ich versuche sogar, Dokumente und Briefe von 1920 zu entziffern, und überlege mir, was zwei Menschen, denen ich nie begegnet bin, gern hätten. Die Prinzessin, der letzte Spross der königlichen Familie. Mein Urgroßvater, dieser dreiste weiße Junge. Was für einen Skandal die beiden ausgelöst haben müssen! Garantiert hatten sie jede Menge Spaß dabei. Welche Liebe, welcher Ehrgeiz! Wie hättet ihr’s denn gern, ihr zwei Turteltäubchen, ihr Rebellen? Was wollt ihr jetzt?
Ich studiere das Holitzer-Portfolio und sehe Ausrufezeichen neben seinem Namen. Ich stelle mir vor, wie Joanie meine Unterlagen durchgeht. Manche Passagen sind für mich unterstrichen und am Rand mit Anmerkungen versehen. Ich lege den Finger auf ein Smiley-Gesicht. Dann taste ich nach ihrer Seite des Bettes und öffne das Kästchen aus Koa-Akazie, das auf ihrem Nachttisch steht. Darin befindet sich nur eine Kette aus Silber mit einem Anhänger in Form eines schiefen Herzens. Dieses Herz habe ich ihr vor ein paar Jahren geschenkt. Sie trägt es nie. Ich weiß gar nicht, wonach ich suche, aber ich stehe auf und wühle ihre Sachen durch - Handtaschen, Schuhkartons, Schubladen, Hosentaschen. Dann gehe ich in Alexandras Zimmer. Irgendetwas rumort in mir und will besänftigt werden.
Ich inspiziere die Schubladen meiner ältesten Tochter. Suche ich etwa nach Scheidungspapieren? Ich schaue unter das Waschbecken in ihrem Badezimmer, hinter die Toilette, zwischen die Handtuchstapel. Ich blättere die Bücher durch und lasse mich durch Alexandras Kinderkram ablenken: alte Kuscheltiere (ein Affe, ein Wurm, ein Schlumpf) und alte Bücher ( Ping, Ferdinand ), an die ich mich aus meiner eigenen Kindheit erinnere, viele handeln von verirrten Tieren, die schwere psychische Probleme haben. Ich finde Fotos von Alex und ihren Freundinnen im Ferienlager auf den San Juan Islands, wie sie auf dem Pudget Sound segeln und vor den Zelten am Lagerfeuer sitzen. Ich entdecke auch einen Stapel Jahrbücher und lese unzählige Einträge, in denen meine Tochter aufgefordert wird, immer schön cool zu bleiben. Manche Einträge nehmen eine ganze Seite ein und sind in einem unverständlichen Code verfasst: Vergiss nicht Hotpants und Dirty Christine! Giftefeu und bring’nen Eimer mit! Sind das Ameisen??? Der Kleinbus ist das Lieblingsrentier meiner Mutter!
Ich stelle mir vor, wie Alex das als ältere Frau liest und sich nicht mehr erinnern kann, was es bedeutet. Mädchen investieren so viel Zeit in die Organisation ihrer Vergangenheit. Da sind zum Beispiel verschiedene Collagen, die Alexandras Wochenenden mit Freundinnen festhalten, aber diese fröhlichen Dokumente hören mit dem vorletzten Highschooljahr auf, das heißt, mit dem Zeitpunkt, als sie ins Internat geschickt wurde. Joanie ging oft in dieses Zimmer und erzählte mir, sie wolle alles umräumen und vielleicht ein Gästezimmer daraus machen. Ich klappe die Schmuckschatulle auf, in der Joanie damals die Drogen entdeckt hat. Sie zeigte mir einen kleinen Ziploc-Plastikbeutel mit einem durchsichtigen, harten Stein.
»Was ist das?«, fragte ich. Weil ich nie Drogen genommen habe, hatte ich keine Ahnung. Heroin? Kokain? Crack? Ice? »Was ist das?«, schrie ich Alex an, die zurückschrie: »Es ist ja nicht so, dass ich mir das Zeug spritze!«
Eine Plastikballerina erscheint und dreht sich langsam zu einer Klimpermelodie aus verzerrten Tönen. Das rosarote Satinfutter ist schmutzig, und außer einer schwarzen Perlenkette sind in der Schatulle nur rostige Büroklammern und Gummibänder, in die sich eine paar von Alexandras dunklen Haaren verfitzt haben. Ich sehe einen Zettel am Spiegel, nehme das Kästchen in die Hand und schiebe die Ballerina beiseite. Sie dreht sich gegen meinen Finger. Auf dem Zettel steht: Ich würde den Stoff nicht zweimal am selben Platz verstecken .
Ich atme kurz und heftig durch die Nase aus. Nicht übel, Alex . Ich klappe das Schmuckkästchen wieder zu und schüttle den Kopf. Ach, sie fehlt mir so unendlich. Sie hätte nicht wieder ins Internat zurückgehen sollen, und ich begreife nicht, wieso sie es sich plötzlich anders überlegt hat. Worüber haben sich die beiden gestritten? Was kann denn so schlimm gewesen
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