Mit deinen Augen
Sein Tod bedeutete das Ende des Fonds. Und wir, die Erben, die viel Land, aber kein Geld haben, verkaufen jetzt unser Portfolio an … an irgendjemanden. Ich weiß noch nicht, an wen.«
»Und Ihre Entscheidung wird sich entscheidend auf den hawaiischen Immobilienmarkt auswirken«, sagt sie in übertrieben wichtigtuerischem Ton. Ich vermute, sie zitiert aus der Zeitung. Es ärgert mich, dass sie alles, was ich ihr gerade erzählt habe, höchstwahrscheinlich schon wusste. Ich klappe Scotties Notizbuch zu.
»So was nennt man Glück.« Mrs. Higgins öffnet die Gittertür. Ich schaue hinüber zu der leeren Bank beim Picknicktisch und stelle mir vor, wie Scottie ganz allein da saß.
»Kann Esther mit mir zum Club gehen statt zur Stimmbildung?«, drängt Scottie. »Du hast gesagt, wir gehen an den Strand. Also, ist das okay?«
Ich blicke über Scotties Kopf hinweg zu Mrs. Higgins. »Ich habe geerbt. Ob es Ihnen passt oder nicht.«
»Mein Beileid wegen Ihres Vaters«, sagt sie.
»Danke«, sage ich.
Ich warte kurz, ob ich mich jetzt endlich verabschieden kann, und als sie nichts mehr sagt, gehe ich mit Scottie zum Wagen. Ich bin erschöpft, als hätte ich gerade eine lange Predigt gehalten, aber immerhin hat mich meine Rede in die richtige Stimmung versetzt. Ich werde die Portfolios der Käufer durchgehen, mit den Bildern von Edward und Kekipi im Kopf. Und danach kann ich endlich aufhören, darüber zu grübeln. Ich komme mir herzlos und kalt vor, weil ich an solche geschäftlichen Dinge denke, während Joanie in ihrem Krankenhausbett liegt, als wäre sie auf einem langen, unbequemen Nachtflug.
»Geht das? Kann Esther mit mir in den Club?«
»Ja, klar«, sage ich. »Gute Idee.«
Wir steigen ein, und ich lasse den Motor an.
»Bist du von jetzt an nett zu Lani?«, frage ich Scottie. Ich denke an Tommy Cook, einen bleichen Jungen mit Hautekzem; wir haben ihn immer wieder an einen Stuhl gefesselt und mitten auf die Straße gestellt. Dann haben wir uns versteckt. Im Rainbow Drive kam selten ein Auto vorbei, aber wenn dann doch eines kam, drosselten die Fahrer immer nur das Tempo und fuhren um den Stuhl herum. Zu meiner großen Verwunderung stieg kein Einziger aus, um Tommy zu helfen. Es war, als würden sie sich alle an unserem Streich beteiligen. Ich habe keine Ahnung, wieso sich Tommy mehr als einmal von uns fangen ließ. Vielleicht genoss er die Aufmerksamkeit.
»Ich werd’s versuchen«, sagt Scottie. »Aber leicht fällt es mir nicht. Sie hat ein Gesicht zum Reinschlagen.«
»Ich weiß, was du meinst«, sage ich und denke an Tommy, aber gleich merke ich, dass ich ja eigentlich kein Verständnis zeigen darf. »Was heißt das?«, hake ich nach. »Ein Gesicht zum Reinschlagen. Woher hast du das?« Wieder einmal frage ich mich, ob Scottie weiß, was sie sagt, oder ob sie nur irgendwas nachplappert, wie Kinder, die die Unabhängigkeitserklärung auswendig lernen müssen.
»Das hat Mom über Danielle gesagt.«
»Ach so.« Joanie hat ihre pubertäre Gemeinheit ins Erwachsenenalter hinübergerettet. Sie schickt wenig schmeichelhafte Bilder von ihren Exfreunden an den Advertiser , damit sie dort auf den Gesellschaftsseiten veröffentlicht werden. Überhaupt spielen sich in ihrem Leben ständig größere Dramen ab, irgendeine Freundin, mit der ich nicht mehr reden soll oder die ich nicht zu unserem Barbecue einladen darf, und dann bekomme ich mit, wie sie am Telefon über den neuesten Skandal tratscht, aufgebracht und enthusiastisch. »Du fällst tot um, wenn ich dir das erzähle«, höre ich sie sagen. »Mein Gott, du fällst tot um.«
Hat Scottie die Redewendung bei so einem Gespräch aufgeschnappt? Hat sie verfolgt, wie ihre Mutter Grausamkeit als amüsante Unterhaltungsstrategie einsetzt? Ich bin fast stolz auf mich, dass ich das alles ohne Blogs analysiert habe, und sogar ohne Esther, und ich möchte es am liebsten gleich Joanie erzählen, um ihr zu beweisen, dass ich auch ohne sie zurechtkomme.
6
Ich studiere die eingereichten Mappen - die Pläne, Gebote, Hintergründe,Versprechungen. Ich sitze auf unserem Bett. Ohne Scottie und Esther ist es still im Haus. Ich dachte, ich könnte einfach einen Käufer aussuchen, aber ganz so unkompliziert ist die Sache natürlich nicht. Ich möchte die optimale Entscheidung treffen. Ich habe diese Bilder im Kopf, und ich fühle mich verpflichtet, auch in ihrem Sinne zu entscheiden. Die Vorschläge für das Land sind praktisch alle identisch: Eigentumswohnungen, Einkaufszentren,
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