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Mit deinen Augen

Mit deinen Augen

Titel: Mit deinen Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kaui Hart Hemmings
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Frau im Koma liegt, aber ich habe mir von Anfang an geschworen, dieses Argument nie zu verwenden, weder als Entschuldigung noch als Trumpfkarte.
    Mrs. Higgins richtet den Blick demonstrativ auf unsere Schuhe, und als ich auf ihre Füße schaue, begreife ich, dass ich meine Schuhe ausziehen soll, was ich nur ungern mache. Aber ich ziehe sie gehorsam aus und stehe in meinen schwarzen Socken vor ihr. Eine Socke ist dunkler als die andere. Scottie rennt ein paar Schritte, schlittert ein Stück über den Fußboden und knallt mit ihrem Kaugummi. Ich will ihr sagen, sie soll aufhören, Kaugummi zu kauen. Das wirkt respektlos. Mrs. Higgins führt uns ins Wohnzimmer, und ich sehe ein Mädchen im Schneidersitz auf dem Sofa sitzen. Das muss Lani sein. Sie hat einen dichten braunen Haarschopf und eine umgestülpte Nase, die ausgezeichnet zu ihrem Spitznamen Lani Piggins passt. Ein kleines Schweinchen. Man spürt gleich, dass sie Scottie mag, denn sie fängt an zu strahlen und kommt ihr entgegen.
    Ich sehe die Mutter an, die eine dünnere Version des Sofamädchens ist, es besteht also durchaus noch Hoffnung. Lanis Augen sind wunderschön blau, ihre Haut ist weiß und glatt. In ein paar Jahren ist sie vielleicht eine Schönheit. Oder auch nicht.
    »Scottie«, beginne ich, »gibt es etwas, was du Lani sagen möchtest?«
    »Es tut mir leid«, sagt Scottie.
    »Ist schon okay«, murmelt Lani.
    »Sehr gut«, sage ich. »Also dann - es war nett, Sie beide kennenzulernen.«
    »Scottie«, meldet sich da Mrs. Higgins zu Wort. »Die Sachen, die du zu Lani gesagt hast, waren sehr böse.«
    Ich sehe meine Tochter an und versuche, ihr mit meinem Blick zu sagen: Akzeptier es einfach .
    »Ich weiß ja nicht, was in deinem Leben schiefläuft, dass du so ein böses Mädchen geworden bist.«
    »Ach, ich bitte Sie«, sage ich. »Scottie hat sich entschuldigt. Kinder sind manchmal gemein. Sie sind gemein, weil sie den anderen Kindern zeigen wollen, dass sie sich nicht alles gefallen lassen, stimmt’s?«
    »Sie muss lernen, dass sie online dieselbe Person sein muss wie in der Wirklichkeit«, sagt Mrs. Higgins.
    »Das finde ich auch.«
    »Sie muss begreifen, dass man online nicht streiten darf. Das ist eine der Schulregeln.«
    »Hast du das verstanden, Scottie?«, sage ich. Ich gehe in die Hocke, damit ich auf Augenhöhe mit ihr bin. Das hat Esther mir beigebracht - sie weiß es aus einer Fernsehsendung über militante Supernannys. »Man muss das, was man sagen will, den Leuten persönlich sagen.«
    Scottie nickt ein paarmal übertrieben: Zuerst zeigt ihr Kinn himmelwärts, dann berührt es ihre Brust.
    »Sie kapiert gar nichts.« Mrs. Higgins hat ein wütend verzerrtes Lächeln, das mir gar nicht gefällt. »Sie tut es bestimmt wieder, das spüre ich.«
    »Nein«, erwidere ich. »Jetzt ist alles okay. Es ist wie damals, als Lani bei ihrer Geburtstagsparty Scottie aus dem Haus ausgesperrt hat. Das war gemein - aber du hast es sicher nur getan, um anzugeben, stimmt’s?«, sage ich zu Lani.
    Lani nickt, merkt dann aber, was sie tut, und erstarrt.
    »Scottie musste die ganze Zeit draußen sitzen«, sage ich.
    »Das habe ich nicht gewusst«, knurrt Mrs. Higgins.
    »Aber Sie haben mir Kuchen gebracht«, wirft Scottie ein.
    »Ja, Sie haben ihr Kuchen gebracht«, wiederhole ich. »Vielleicht ist ja Lani diejenige, die sich entschuldigen sollte, da dieser Vorfall offensichtlich die ganze Sache ausgelöst hat - das ganze Böse. ›Böse‹ war doch das Wort, das Sie benutzten, nicht wahr?« Sie haben es mit einem Anwalt zu tun, Lady, ich kann ohne Pause so weiterreden, selbst in nicht zusammenpassenden Socken .
    »Tut mir leid«, seufzt Lani.
    Mrs. Higgins hat jetzt die Arme eng vor der Brust verschränkt, frustriert darüber, dass die Welt sich gedreht hat, wie Scottie sagen würde.
    Ich schlage mir auf die Schenkel. »Gut! Ausgezeichnet. Lani, du solltest bald mal zu uns kommen. Schwimmen gehen oder wandern. Oder mit deinem Notizheft.«
    »Okay«, sagt Lani. Scottie schaut mich an und zieht eine mürrische Grimasse, aber ich weiß, dass sie es später garantiert gut findet. Man braucht Freunde, die einem das Gefühl völliger Überlegenheit geben. »Noch mal, Mrs. Higgins und Lani, ich bedaure es, dass es Probleme und Tränen gegeben hat, und ich hoffe, dass wir uns bald unter erfreulicheren Umständen wiedersehen.«
    Mrs. Higgins geht zur Tür.
    »SYL«, sagt Scottie.
    »SYL«, sagt Lani.
    See you later . Diese Abkürzung kann ich immerhin entschlüsseln.

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