Mit deinen Augen
aber es ist trotzdem tot.«
Ich höre, wie Jerry hüstelt, und dann redet Troy über das Leben und über Zitronen und anderen Quark.
Als ich endlich aus meinem Versteck komme, entfernt sich Troy, und Scottie rennt aus dem Speisesaal, ich hinter ihr her. Sie läuft zur Strandmauer; ich hole sie ein, bevor sie hinunterspringt. Sie hat Tränen in den Augen. Sie verdreht die Augen nach oben, damit die Tränen nicht loskullern, aber es hift nichts, sie laufen ihr über die Wangen. Ich möchte es genauso machen wie sie. Ich möchte mich hinknien und weinen.
»Ich wollte das nicht sagen mit dem toten Huhn«, schluchzt sie. »Aber es ist doch so, dass Mom dauernd zuckt. Das hat überhaupt nichts zu bedeuten.«
»Komm, wir gehen nach Hause«, sage ich.
»Warum sind alle Leute hier so wild auf Sport? Du und Mom und Troy - ihr denkt, ihr seid so was von cool. Alle hier finden sich cool. Warum geht ihr nicht in einen Buchclub? Warum kann Mom nicht einfach zu Hause sitzen und sich entspannen?«
Ich nehme sie in den Arm, und sie lässt mich.
»Ich will nicht, dass Mom stirbt«, sagt Scottie.
»Natürlich nicht.« Ich halte sie von mir weg und beuge mich zu ihr hinunter, um ihr in die Augen zu sehen. »Natürlich willst du das nicht.«
»Ich will nicht, dass sie bei so was stirbt«, sagt Scottie. »Bei einem Rennen oder bei einem Turnier. Ich habe mal gehört, wie sie sagte: ›Ich will mich mit einem Knall verabschieden. ‹ Aber ich möchte, dass sie sich verabschiedet, wenn sie mal echt alt ist - und dann erstickt sie an einem Maiskorn oder rutscht auf einem Stück Klopapier aus.«
»Mein Gott, Scottie, was redest du da? Komm, wir gehen nach Hause. Du meinst das doch alles nicht ernst. Ich mag es nicht, wenn du so redest. Und Mom wird nicht sterben.«
Ihr Gesicht ist verquollen. Ihre Haare sind fettig. Sie macht ein angewidertes Gesicht. Es ist ein sehr erwachsener Blick.
»Hör zu. Deine Mutter findet dich ganz toll. Sie sagt, du bist das hübscheste, klügste, witzigste Mädchen in der ganzen Stadt.«
»Sie findet, ich bin ein Feigling.«
»Stimmt doch gar nicht. Warum sollte sie?«
»Ich wollte nicht mit ihr aufs Boot, und da hat sie gesagt, ich bin ein Angsthase.«
»Das war doch nur ein Witz. Sie findet, du bist das mutigste Mädchen überhaupt. Zu mir hat sie mal gesagt, es macht ihr richtig Angst, wie mutig du bist.«
»Ehrlich?«
»Ja, ehrlich.« Joanie hat oft gesagt, dass wir zwei kleine Angsthasen großziehen, aber von allen Lügen, die ich erzähle, ist diese die notwendigste. Ich möchte nicht, dass Scottie ihre Mutter hasst, so wie Alexandra sie früher gehasst hat - oder auch jetzt noch hasst.
»Ich gehe jetzt schwimmen«, erklärt Scottie.
»Nein«, sage ich. »Es reicht für heute.«
»Bitte, Dad!« Sie schlingt die Arme um meinen Hals und flüstert: »Ich will nicht, dass die Leute sehen, dass ich geweint habe. Lass mich kurz ins Wasser.«
»Okay, einverstanden. Ich warte hier.«
Sie packt die Kamera in ihren Rucksack, zieht ihre Sachen aus und wirft sie mir zu, überreicht mir zwei Fotos, springt dann von der Mauer in den Sand und rennt in Richtung Meer. Sie taucht unter und kommt erst nach einer Weile wieder an die Oberfläche. Es dauert mindestens eine Minute. Ich sitze auf der Korallenmauer und beobachte sie und die anderen Kinder und ihre Mütter. Die Mütter haben so viel Krempel dabei: Proviant, Spielzeug, Schirme, Handtücher. Ich habe gar nichts, nicht einmal ein Handtuch, mit dem ich Scottie empfangen könnte, wenn sie nach dem Schwimmen angerannt kommt. Links von mir ist ein kleines Riff. Ich sehe schwarze Seeigel, die sich in die Ritzen quetschen. Ich kann es immer noch nicht fassen, dass Scottie ihre Hand in eins dieser Tiere gedrückt hat.
Ich studiere das Foto von Jerry und dann das von Troy. Sein Lächeln ist so überzeugend, seine Muskeln glänzen, als würde er sie einölen. Die äußere Speiseterrasse füllt sich langsam mit Gästen und ihren pinkfarbenen, roten und weißen Eisdrinks. Ein älterer Herr kommt aus dem Wasser, ein Ein-Mann-Kanu auf der Schulter und ein müdes Lächeln auf den Lippen, als würde er gerade von einer Tiefseeschlacht zurückkehren.
Auf der Terrasse und auf dem Felsenpier werden die Fackeln angezündet. Ich sehe immer noch die Partyboote am Windsack vorbeifahren und wieder in Richtung Strand steuern. Die sengende Sonne hat sich in eine wabernde, kreisrunde Scheibe verwandelt, direkt über dem Horizont. Es ist schon fast Zeit für das grüne
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