Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mit deinen Augen

Mit deinen Augen

Titel: Mit deinen Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kaui Hart Hemmings
Vom Netzwerk:
ganz rund, und er lässt die Krankenakte sinken - fast sieht es so aus, als würde er sie gleich fallen lassen.
    Ich schüttle langsam den Kopf. Scottie sitzt im Schneidersitz auf dem Stuhl, die Hände im Schoß. Sie wartet.
    »Also gut.« Er strafft sich. »Wie Sie wissen, waren die Werte Ihrer Frau die ganze Zeit relativ stabil, aber diese Woche sind sie leicht nach unten gegangen. Manche Patienten mit niedrigen Werten erholen sich optimal, während bei Patienten mit höheren Werten oft gar keine Verbesserung einsetzt, aber in unserem Fall sollten wir - äh …«
    »Scottie, ich möchte mit Dr. Johnston unter vier Augen sprechen.«
    »Nein, danke«, sagt sie.
    »Also, wir müssten demnächst eine klarere Indikation dafür haben, wie... wie viel länger … sie auf dieser Station hier bleiben wird«, sagt er.
    »Das ist doch ein gutes Zeichen, oder?«, sagt Scottie.
    »Wenn ein Komapatient die ersten sieben bis zehn Tage nach dem Schädelhirntrauma übersteht, kann man in der Regel von langfristigen Überlebenschancen ausgehen, aber …«
    »Mom ist doch schon länger hier! Viel länger als sieben Tage.«
    »Bitte, Scottie«, sage ich.
    »Sie kann überleben, aber die Lebensqualität wird sehr gering sein«, sagt der Arzt.
    »Sie ist dann nicht mehr fähig, die Dinge zu tun, die sie vorher tun konnte«, sage ich und schaue Dr. Johnston fragend an, weil ich wissen will, ob ich richtig liege mit meiner Vermutung. »Keine Motorräder. Keine Boote.«
    »Dann kann sie sich auch nicht verletzen«, sagt Scottie.
    »Komm, wir gehen, Scottie. Wir fahren jetzt an den Strand.«
    Wieder schaue ich Dr. Johnston an, seine buschigen Augenbrauen, seine runzligen, fleckigen Hände. Mir fallen unsere vielen weihnachtlichen Zusammenkünfte in Hanalei ein: Die Familien trafen sich in den Weihnachtferien in den alten Plantagenhäusern mit den knarzenden Fußböden und der schlechten Beleuchtung, den Moskitonetzen und den Gespenstern. Dr. Johnstons Gesicht war meistens unter einem Cowboyhut verborgen, und er verbrachte die Tage mit Angeln oder Gitarrespielen, etwas, was mein Vater nicht konnte; das lockte uns Kinder an und beruhigte uns. Mein Dad ging immer Hochseeangeln, und einmal schleppte er einen Marlin an, dessen speerartiger Oberkiefer anklagend emporragte. Meistens brachte er Thunfisch mit, und mit vertauschten Rollen werkelten die Männer dann in der Küche herum, debattierten über Soßen und brachten den Grill auf die richtige Temperatur.
    Ich frage mich, ob er jetzt ebenfalls an diese Zeit denken muss: ich als kleiner Junge, der mit offenem Mund zuhört, wie er Gitarre spielt. Das ist bestimmt auch nicht leicht für ihn. Sehr seltsam. Er kennt mich, seit ich auf die Welt gekommen bin, blutig und glitschig. Jetzt notiert er etwas in seine Akte. Ich verspüre den Drang, mich an ihn zu klammern und zu sagen, dass ich keine Ahnung habe, wie man das alles macht, und dass er mir helfen muss. Dass er mir haargenau sagen soll, was jetzt kommt. Dass er ein Lied für mich spielen soll. Dass er mich hier rausholen soll.
    »Das heißt, Mom ist okay«, konstatiert Scottie. Dr. Johnston sagt nichts mehr, und ich weiß immer noch nicht, was los ist, außer, dass es unerfreulich ist. Scottie sucht ihre Sachen zusammen, und als sie gerade nicht herschaut, legt mir der Arzt die Hand auf den Rücken. Sein stoischer Gesichtsausdruck jagt mir Angst ein.
    »Können Sie später noch einmal vorbeikommen?«, fragt er. »Wir sollten ungestört reden.«
    »Selbstverständlich.«
    Er geht hinaus. Als ich in der Tür sein Profil sehe, sieht er entschlossen, fast wütend aus.
    »Zum Strand!«, ruft Scottie und läuft aus dem Zimmer, ohne sich noch einmal zu ihrer Mutter umzudrehen. Ich entschuldige mich stumm bei meiner Frau, dass wir sie hier allein lassen, ich entschuldige mich für ihre niedrigen Werte und dafür, dass wir nicht wissen, was das bedeutet, und dass wir jetzt an den Strand gehen, wo wir uns womöglich amüsieren. Wird sie gelähmt sein? Wird sie das ABC noch aufsagen können?
    Ich küsse sie auf die Stirn und sage ihr, dass ich für sie sorgen werde. Egal, was kommt, ich bin für sie da. Ich sage ihr, dass ich sie liebe. Weil es stimmt.

10
    Im Club lehnen an den Hecken lauter Surfbretter.
    Es hat einen South Swell gegeben, wie man hier sagt, eine Brandung, die zum Surfen besonders günstig ist, aber die Wellen werden jetzt von dem starken Wind nach draußen getrieben.Wir gehen den Sandweg am Speisesaal entlang. Der Speisesaal ist eine

Weitere Kostenlose Bücher