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Mit deinen Augen

Mit deinen Augen

Titel: Mit deinen Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kaui Hart Hemmings
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musst Mom doch eigentlich nur sagen, dass du sie vermisst. Sie braucht keine Geschichte.«
    »Okay. Dann fahren wir wieder zu ihr. Ich erzähle ihr einfach nur, was passiert ist.«
    »Wir müssen erst nach Hause und Creme und Eispackungen auf die verletzten Stellen geben. Essig würde die Reizung nur noch verschlimmern, also falls du gedacht hast, dein Giraffenjunge könnte wieder auf dich pinkeln, hast du leider Pech gehabt.«
    Sie nickt, als hätte sie nichts anderes erwartet - die Strafe, die Behandlung, die Schwellung, den Schmerz, den sie jetzt empfindet, und den Schmerz, den sie später spüren wird. Sie scheint mit meinen Vorwürfen einverstanden zu sein. Endlich hat sie die Geschichte, die sie wollte, und sie beginnt zu begreifen, dass es viel leichter ist, körperliche Schmerzen zu ertragen als seelischen Schmerz. Es macht mich maßlos traurig, dass sie diese Erfahrung schon in so jungen Jahren machen muss.
    »Im Krankenhaus gibt’s doch auch Cremes und Eiswürfel«, sagt sie.
    Wir gehen den Sandweg zur Speiseterrasse hinauf. Ich sehe Troy an einem Tisch sitzen, mit ein paar Leuten, die ich auch kenne. Ich schaue kurz zu Scottie, weil ich wissen will, ob sie ihn auch sieht. Sie zeigt ihm den Finger. Die ganze Speiseterrasse stöhnt auf, aber mir ist schnell klar, dass dieses Stöhnen dem Sonnenuntergang und dem grünen Leuchten gilt. Wir haben es gerade verpasst. Das Leuchten hat ausgeleuchtet. Die Sonne ist untergegangen, und der Himmel verfärbt sich rosarot. Ich will Scotties Stinkefinger packen, aber stattdessen mache ich ihr Verbesserungsvorschläge für ihre Gestik.
    »Scottie, schau mal her, du darfst den Finger nicht so allein dastehen lassen. Du musst auch die anderen Finger ein bisschen hochbringen. Ja, genau so. Das ist die coole Art.«
    Troy starrt zu uns herüber und lächelt, andeutungsweise. Er ist völlig durcheinander.
    »Okay, das genügt.« Plötzlich habe ich Mitleid mit Troy. Er muss sich beschissen fühlen.
    Ich lege Scottie die Hand auf den Rücken, um sie anzuschieben. Sie zuckt zusammen, und ich nehme meine Hand schnell wieder weg. Ich habe vergessen, dass ihre Haut überall gereizt ist.
    »Können wir jetzt ins Krankenhaus fahren?«, fragt sie. Wir gehen an den Umkleidekabinen vorbei zum Parkhaus.
    »Ich bringe dich nach Hause«, sage ich.
    »Aber ich habe eine Geschichte, und die will ich Mom erzählen.«
    Weil ihre Stimme im Parkhaus sehr laut widerhallt, geht Scottie nicht weiter.
    Ich bleibe ebenfalls stehen und drehe mich zu ihr um. »Komm schon.«
    Sie schüttelt den Kopf. Ich gehe zu ihr und nehme sie an der Hand, aber sie reißt sich los. »Ich will zu Mom! Sonst vergesse ich noch, was ich ihr sagen muss.«
    Ich packe ihr Handgelenk, diesmal mit mehr Kraft, und sie schreit. Ich sehe mich um und gehe weiter, aber sie schreit immer weiter, und dann schreie ich auch, wir schreien beide im Parkhaus, und unser wütendes Geschrei wird von den Mauern zurückgeworfen.

    Scottie sitzt schmollend im Auto. Ich beschließe, Dr. Johnston anzurufen. Ich will nicht noch mal ins Krankenhaus. Ich habe zu viel zu tun. Ich bitte eine Krankenschwester, ihn rufen zu lassen, und wenig später meldet er sich. Scottie drückt auf die Hupe. Ich ignoriere sie.
    »Matthew«, sagt er.
    »Können Sie es mir jetzt sagen?«, frage ich. »Sagen Sie mir einfach alles.« Ich stehe im Parkhaus und beobachte Scottie, die im Auto sitzt.
    »Der Druck im Gehirn hat zugenommen«, sagt er. »Wir haben die Flüssigkeit abgeleitet und könnten einen chirurgischen Eingriff vornehmen, aber bei ihren Punkten auf der Koma-Skala würde das nichts bringen, fürchte ich. Sie haben vielleicht bemerkt, dass in letzter Zeit keinerlei Augenbewegung mehr festzustellen war. Und auch sonst keine Bewegung. Das Schädelhirntrauma ist gravierend. Es tut mir sehr leid«, sagt er. »Wir haben ja schon darüber gesprochen, über die Möglichkeit …«
    Ich möchte ihm helfen. Ich möchte, dass er nicht jedes Wort sagen muss, das er jetzt sagen muss - zu einem Jungen, den er schon sein ganzes Leben kennt.
    »Plan B?«, sage ich. Das ist der Begriff, den ich bei dem Gespräch damals verwendet habe.
    »Ich fürchte, ja. Plan B.«
    »Okay«, sage ich. »Okay. Ich komme. Morgen früh komme ich zu Ihnen. Oder geht es jetzt schon los? Stellen Sie gleich alles ab?«
    »Nein, ich warte, bis wir uns morgen gesehen haben, Matthew.«
    »Okay, Sam.« Ich lege auf und habe Angst, in den Wagen zu steigen. Im Wagen sitzt ein Mädchen, das erwartet,

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