Mit deinen Augen
dass ich alles wieder in Ordnung bringe, ein Mädchen, das glaubt, seine Mutter wird wieder gesund, damit sein Vater sich wieder zurückziehen kann und nur noch abends auftaucht, um Gäste zu empfangen und mit ihnen zu essen. Ein Vater, der morgens an der Kücheninsel frühstückt und über Schulbücher,Taschen, Klamotten und anderen Krempel klettert und dann aus dem Haus geht. Ich stehe immer noch wie angewurzelt im Parkhaus und denke über Plan B nach. Dieser Plan bedeutet, dass meine Frau in einem vegetativen Zustand ist und bleiben wird, unwiderruflich. Sie hat schwerste hirnorganische Beeinträchtigungen erlitten. Man wird wegen Organspenden an mich herantreten. Plan B bedeutet, dass wir aufhören, sie künstlich zu ernähren, sie künstlich zu beatmen. Der Tropf wird entfernt, die Medikamentierung eingestellt. Plan B heißt, wir lassen sie sterben.
Ich höre Autoreifen um eine Kurve quietschen. Ein Wagen biegt in unser Untergeschoss. Mir kommen die Tränen, aber ich wische sie weg. Die Fahrerin hält an, als sie mich sieht. Sie ist schon älter und kann kaum über das Steuer ihres Cadillac schauen. Ich sehe, wie ihre Finger das Lenkrad umkrallen, und ich denke: Wieso darfst du so lang leben? Das Fahrerfenster geht nach unten, und ich warte gespannt, wie sie mich dazu bringt, aus dem Weg zu gehen.
»Darf ich bitte vorbei?«, fragt sie.
»Entschuldigung«, murmle ich und gehe beiseite.
11
Wir sind auf der H1 und stecken im Stau, hinter einem Lastwagen, der irgendwie abgeschleppt wird und in dessen Rückfenster mit Airbrushtechnik eine Frau gemalt ist, deren Brüste so rund sind wie Untertassen. Weil der Laster so breit ist, kann ich nicht feststellen, warum wir nicht vorwärtskommen, aber wahrscheinlich gibt es gar keinen speziellen Grund. Der Straßenverkehr ist so rätselhaft wie das menschliche Gehirn oder wie Make-up und zehnjährige Mädchen. Scotties Verletzungen sind jetzt zu roten Striemen angeschwollen, und ich halte ihre Hand fest, als sie sich kratzen will. Sie hat trockene weiße Flecken auf der Haut, weil ich ihr nicht erlaubt habe, sich abzuduschen. Das Salzwasser muss auf den Wunden bleiben.
»Ist dir schwindelig?«, frage ich besorgt. »Ist dir übel?«
Sie schnieft. »Ich glaube, ich habe mich erkältet.« Sie will nicht zugeben, dass es daher kommt, dass sie mit giftigen Polypenkolonien herumgeschwommen ist. Sie fühlt sich elend, und ich glaube, sie besteht nicht mehr darauf, gleich ins Krankenhaus zu fahren, weil sie begriffen hat, dass es doch keine so gute Geschichte ist.
Um sie aufzuheitern, sage ich: »Morgen musst du dir zu Hause die Beine rasieren, um die letzten Nesselzellen zu entfernen.«
Sie schaut auf ihre Beine, die mit einem hellbraunen Haarflaum bedeckt sind, und sie grinst. »Reina flippt aus, wenn sie das hört. Und dann muss ich das die ganze Zeit tun. Was für ein Aufwand.«
»Nein«, sage ich. »Du machst es nur das eine Mal.«
»Meinst du, ich habe dem Seeigel genauso wehgetan wie er mir?«, fragt Scottie.
»Das weiß ich nicht.« Ich kann die Musik aus dem Lastwagen hören, das heißt, eigentlich höre ich keine Musik, sondern nur lautes Gewummer, das unsere Fenster vibrieren lässt. Ich denke über den Seeigel nach. Dass ihm etwas wehtun könnte, daran habe ich noch gar nicht gedacht.
»Warum bezeichnen viele Leute die portugiesischen Galeeren als Quallen, wenn sie doch gar keine sind?«
»Weil sie so ähnlich aussehen und weil das Wort viel einfacher ist.«
»Oder weil Väter lügen und nie die richtigen Bezeichnungen sagen«, sagt sie.
»Ja, auch das.«
Wie von Zauberhand löst sich der Verkehrsstau plötzlich auf, und ich fahre an der Ausfahrt vorbei, die wir nehmen müssten, wenn wir nach Hause fahren würden. Scottie merkt es gar nicht.
Als Doktor Johnston und ich letzte Woche über die undenkbare Möglichkeit gesprochen haben, sagte er, bei einer Frau wie Joanie, deren Patientenverfügung künstliche Ernährung und künstliche Beatmung untersagt, würde man dann üblicherweise Freunde und Familie zusammenrufen, damit sie sich verabschieden können.
»Die Leute können das alles selbst arrangieren und können sagen, was sie sagen wollen. Wenn es so weit ist, sind sie dann bereit. Jedenfalls so bereit, wie man dafür je bereit sein kann.«
Ich habe ihm zugehört, so wie man der Flugbegleiterin zuhört, wenn sie einem die Verhaltensvorschriften im Fall einer Wassernotlandung erläutert.
Plan B .
Ein Meer aus roten Lichtern, und ich drossle das
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