Mit deinen Augen
Tempo. Jetzt ist es also an mir, alle zu informieren und ihnen zu sagen, dass wir sie gehen lassen müssen. Ich will es bei keinem telefonisch tun, weil es mir nicht gefallen hat, wie das bei mir und Dr. Johnston war. Mir bleibt etwa eine Woche Zeit, um alles zu arrangieren, wie der Arzt sich ausgedrückt hat. Aber ich fühle mich absolut überfordert. Wie soll ich lernen, eine Familie zu führen? Wie soll ich mich von der Frau verabschieden, die ich so sehr liebe, dass ich vergessen habe, wie sehr?
»Warum heißt das Tier eigentlich portugiesische Galeere? Darunter kann man sich doch gar nichts vorstellen«, sagt Scottie.
»Man kann auch von einer Polypenkolonie reden«, erkläre ich, was eigentlich keine Antwort auf ihre Frage ist.
»Aber du stellst gute Fragen, Scottie. So allmählich wirst du zu schlau für mich.«
Ich bin mir nicht sicher, ob es richtig ist, sie mitzunehmen, aber ich denke, dass ich mich nicht mehr auf Esther verlassen sollte. Ich kann mich auf niemanden mehr verlassen. Ich muss selbst die Kontrolle über meine Töchter übernehmen, und deshalb habe ich beschlossen, dass sie heute Nacht beide zu Hause schlafen.
Ich sehe die Ausfahrt zum Flughafen und werfe einen Blick auf die Uhr im Armaturenbrett.
»Was machen wir überhaupt?«, fragt Scottie auf einmal. Ein Flugzeug donnert über uns weg. Ich blicke hoch, weil es so laut ist, und sehe seinen dicken grauen Bauch schwer im Himmel hängen.
Ich nehme die Ausfahrt. »Wir holen deine Schwester.«
ZWEITER TEIL
King’s Trail
12
W enn ich auf Big Island lande, fühle ich mich immer in die Vergangenheit zurückversetzt. Hawaii macht einen derart verlassenen Eindruck, als wäre es gerade von einem Tsunami heimgesucht worden.
Ich fahre die vertraute Straße entlang, vorbei an den stacheligen Kiawebäumen, den schwarzen Sandstränden und den Kokospalmen mit den wilden Papageien. Die Luft wird kühler, und über allem hängt ein dünner Nebel - wir sagen hier »Vog«, in Anlehnung an den englischen »Smog«, nur ist es bei uns eine Mischung aus Vulkanasche und »Fog« und riecht nach Schießpulver. Das trägt zu dem Gefühl der Verlassenheit bei. Ich fahre durch die schwarzen Lavafelder, wo man immer wieder die weiße Felskreide aufleuchten sieht, mit der sich die Jugendlichen hier verewigen. Das ist unser Insel-Graffiti: Keoni liebt Kayla , Vorwärts Hawaii , und die längste Verlautbarung heißt: Wer das liest, ist schwul . Zwischen den scharfkantigen Felsen entdecke ich Heiaus und auf Teeblätter gestapelte Steine: Gaben an die Götter.
»Was ist das?«, fragt Scottie. Sie hat sich im Beifahrersitz zusammengerollt, sodass ich ihr Gesicht gar nicht sehen kann.
»Was ist was?« Ich sehe hinaus in die Leere.
»Da - der Pfad.«
Ich sehe den Weg aus runden, vom Wasser geglätteten Steinen, der mitten durch die Lavafelder führt. »Das ist der King’s Trail.«
»Heißt der nach uns?«
»Nein. Hast du in der Schule nichts über den King’s Trail gelernt?«
»Doch, wahrscheinlich schon«, sagt sie.
»Was für eine Art von Hawaiianerin bist du denn?«
»Deine Art«, sagt sie.
Wir schauen zu dem breiten, endlosen Pfad, der die ganze Insel umschließt.
»König Kal kaua hat ihn angelegt. Und ihn dann immer wieder ausbauen lassen. Auf diesem Pfad haben sich deine Vorfahren hier auf der Insel fortbewegt.« Wir fahren neben dem Pfad her wie neben einer alten Landstraße, was er ja eigentlich auch ist, gebaut von Strafgefangenen, geebnet durch Viehtrieb und menschliche Nutzung. Daran muss ich immer denken, wenn ich den Pfad sehe - gebaut haben ihn Leute, die ihre Steuern nicht bezahlt haben.
»Wie alt ist er?«, fragt sie.
»Alt«, entgegne ich. »Neunzehntes Jahrhundert.«
»Das ist echt alt.« Sie starrt immer noch hinaus auf den Pfad mit der langen Felseinfassung, und als wir die Hügel und Ranches von Waimea erreichen, merke ich, dass sie eingeschlafen ist.Tagsüber sind die Hügel mit Kühen und Pferden gesprenkelt, aber jetzt sind keine Tiere zu sehen. Ich fahre vorbei an windschiefen grauen Holzzäunen und lasse das Fenster herunter, um die Gerüche einatmen zu können: Kälte, Gras, Dung, Ledersättel. Es ist das Aroma von Kamuela. Meine Großeltern hatten hier eine Ranch.
Als Kind war ich oft zu Besuch bei ihnen und durfte Erdbeeren pflücken, reiten und Traktor fahren. Das war eine ungewohnte Welt: Sonne, Kälte, Cowboys, Strände, Vulkane und Schnee. Der Mauna Kea war immer zu sehen; ich habe ihm zugewinkt und mir ausgemalt,
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