Mit deinen Augen
Störung,Yuki«, sagt die Hausmutter. »Wir haben die falsche Tür erwischt.«
»Darf ich mich dann wieder zurückziehen? Ich habe schon geschlafen.«
»Ja, geh wieder ins Bett.«
»Gute Nacht«, sage ich. Sagenhaft, wie diszipliniert es hier zugeht! Ich stelle mir Reihen von Mädchen vor, alle in ihre Betten gekuschelt und träumend.
Die Hausmutter klopft an die richtige Tür. Keine Antwort. Meine Tochter liegt also auch schon in den Federn und träumt. »Ich wecke sie«, erklärt unsere Begleiterin und taucht ins Dunkel.
Scottie reckt den Hals, um einen Blick ins Zimmer ihrer älteren Schwester werfen zu können. Ich überlege, was ich Alex sagen soll. Wie kann ich ihr beibringen, dass sie ihre Mutter verlieren wird? Was für eine komische Formulierung: die Mutter verlieren.Wir verlieren eine Mutter. Meine Frau wird bald tot sein.
Die Hausmutter kommt wieder aus dem Zimmer und schließt die Tür hinter sich.
»Schläft sie?«
»Nein.«
Ich warte darauf, dass sie weiterredet. »Zieht sie sich etwas über?«
»Nein«, sagt die Hausmutter. Ihre Hand liegt immer noch auf dem Türknauf. »Alexandra ist nicht da.«
Wir suchen sie im Badezimmer, im Arbeitszimmer, im Fernsehraum. Wir schauen in die Zimmer ihrer Freundinnen.
Die Hausmutter gerät in Panik, weniger aus Sorge um meine Tochter, sondern weil Alex’ Abwesenheit ein schlechtes Licht auf sie wirft. Sie redet ohne Pause. Als wollte sie mir etwas verkaufen.
»Die Mädchen sind spätestens um neunzehn Uhr im Wohnheim«, erklärt sie.Wir begeben uns ins untere Stockwerk, um noch eine Freundin aufzuwecken. »Dann ist bis einundzwanzig Uhr Hausaufgabenzeit. Keine Spiele, keine Filme, kein lautes Geplauder.«
Scottie findet die Situation spannend. Ihre Verletzungen leuchten knallrot im Neonlicht. Auf ihrem T-Shirt steht VOTE FOR PEDRO , was immer das heißen soll, und ihre Haare stehen an manchen Stellen ab, während sie sonst am Kopf kleben. Neben dem Ohr sind sie mit einer undefinierbaren Substanz verklumpt. Im Flugzeug hat sie roten Saft getrunken, der auf den Lippen und am Kinn lauter Flecken hinterlassen hat, sodass man denken könnte, sie hat rohes Fleisch gegessen. Irgendwie sieht sie aus wie ein überfahrenes Tier auf der Landstraße, und ihr Anblick bringt mich meinerseits dazu, die Hausmutter zu umwerben, als befänden wir uns in einem Wettstreit, wer besser für die Kinder sorgen kann.
»Bestimmt ist sie bei einer Freundin«, sage ich. »Mädchen haben doch immer so viel zu besprechen.«
»Sie quatschen über Jungs«, sagt Scottie.
»Nun, wir haben strenge Regeln, wann das Licht ausgemacht werden muss. So ein Verhalten wird nicht hingenommen.«
»Was passiert jetzt mit ihr?«, will Scottie wissen. »Wird ihr das Fernsehen gestrichen? Bei mir ist das immer so. Ich darf dann nicht fernsehen, aber ich zeichne die Sendungen ja sowieso auf. Esther weiß bloß nicht, wie das geht.«
»Ich zeichne auch alles auf«, sagt die Hausmutter.
»Esther war unsere Haushaltshilfe«, erkläre ich.
»Ist sie immer noch«, verbessert mich Scottie. »Sie kocht, putzt und massiert mir den Rücken.«
Ich lache. »Scottie, sei nicht albern.«
»Ich bin nicht albern.«
»Wo wohnt ihre Freundin?«, frage ich.Wir gehen einen endlos wirkenden Gang entlang. Endlich bleibt die Hausmutter vor einer Zimmertür stehen. Sie klopft, geht hinein und schließt die Tür hinter sich.Wir bleiben draußen stehen und starren auf die beiden Namen, HANNAH und EMILY, die mit lila Stift auf lavendelfarbene Pappe geschrieben wurden und von ausgeschnittenen gelben Blumen umrankt sind. Ich erkenne den Geruch von lilafarbenem Wachsmalstift. In diese Namensschilder hat jemand viel Zeit investiert, und mich freut es, dass Alexandra solche Freundinnen hat. Mädchen, die auf Pappe malen und komplizierte Blumenmuster basteln.
Die Hausmutter kommt wieder heraus, und ihr Gesichtsausdruck verrät mir, dass sie keine guten Nachrichten hat. »Emily ist auch nicht da. Wir gehen zurück zu Alexandras Zimmer. Möglicherweise ist sie inzwischen zurückgekommen.«
»Oder ihre Zimmergenossin verrät uns, was los ist«, sage ich.
Die Mitbewohnerin packt aus. Aber es dauert eine ganze Weile. Sie behauptet, dass Alex sie fertigmachen wird, weil sie gepetzt hat, aber ich versichere ihr, dass meine Tochter das nicht tun wird. Sie tut mir leid, die Zimmergenossin. Ich kann mir kein unpassenderes Paar vorstellen. Sie atmet durch den Mund, hat fitzelige Haare und Heuschnupfen. Auf ihrer Seite des
Weitere Kostenlose Bücher