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Mit deinen Augen

Mit deinen Augen

Titel: Mit deinen Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kaui Hart Hemmings
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hatte Schüttelfrost, ihr Gesicht war kreidebleich, der Badeanzug schmutzig, und sie hatte Schrammen an Knien und Schenkeln. Ich dachte, sie wäre überfallen worden, und fing an zu schreien. Ich weiß nicht mehr, was ich geschrien habe. Aber sie schüttelte den Kopf, und dann tat sie etwas, was sie noch nie getan hatte. Sie ließ sich auf den Felsen sinken, zog mich mit hinunter, klammerte sich an mich und weinte an meiner Brust. Wir saßen sehr unbequem, aber ich konnte und wollte mich nicht rühren, weil die geringste Bewegung entweder Joanie oder diesen Augenblick zerstört hätte. Obwohl sie schluchzend in meinen Armen lag, war es ein glücklicher Moment für mich - ich durfte stärker sein als sie, ich wurde von ihr gebraucht, ich sah ihre Zerbrechlichkeit. Endlich erzählte sie mir, was geschehen war, und ich musste lächeln, weil sie mir vorkam wie ein Kind, das aus einem Albtraum aufwacht - schniefend und atemlos redete sie ohne Pause, und ich war der Einzige, der sie trösten konnte. Ich war da. Und im Schrank und unter dem Bett war nichts.
    »Ich habe gedacht, das war’s - alles ist vorbei«, seufzte sie. »Ich war so wütend, weil meine Zeit schon abgelaufen ist.«
    »Ist sie aber nicht«, sagte ich. »Du hast es geschafft. Du bist hier.«
    Abends am Feuer war sie wieder wie immer, posierte, spielte, sorgte für Unterhaltung. Sie wich meinem Blick aus. Am liebsten hätte ich sie gefragt: Was ist so schlimm daran, wenn man zugibt, dass man Angst hat?
    »Ich hätte das Abendessen sein können«, sagte sie am Ende ihrer Geschichte noch einmal, griff sich den Fisch und biss kräftig hinein. Alle lachten. Ich auch. Ihr Auftritt gefiel mir, und es gefiel mir auch, dass ich der einzige Mensch auf der Welt war, der sie wirklich kannte. Die Vorstellung, dass Brian sie genauso kennt oder dass sie in seinen Armen ebenso geweint haben könnte wie damals, vor mehr als zwanzig Jahren, in meinen, ist mir unerträglich.
    »Sie hat die Geschichte immer wieder erzählt«, sage ich den Mädchen.
    Wir haben wieder den Teil des Strandes erreicht, wo die Häuser beginnen. Die Menschen haben ihre Liegen und ihre Weingläser herausgebracht, um sich den Sonnenuntergang anzusehen. Ich mustere die Gesichter, ich suche nach ihm und bin mir nicht mehr sicher, ob ich wirklich großmütig und nachsichtig sein kann.
    »Warum hat sie aufgehört, sie zu erzählen?«, fragt Alex. »Ich hab sie überhaupt nicht gekannt.«
    »Ich nehme an, weil sie genug neues Material hatte«, sage ich.
    Die Mädchen scheinen verwirrt.Vielleicht finden sie es komisch, dass ihre Eltern Dinge getan haben, von denen sie nichts ahnen.
    »Wie die Geschichte, als sie bei Litas Hochzeit geflitzt ist«, sagt Scottie. »Die finde ich toll.«
    »Oder als der Gorilla im Zoo zwischen den Stäben durch nach ihr gegrabscht hat«, sagt Alex. »Oder als sie einen wilden Keiler mit ihrem Schuh vertrieben hat.«
    »Oder wie ihr Kleid während der ganzen Party hinten in der Strumpfhose steckte und sie keine Unterhose drunter anhatte«, sagt Scottie.
    »Sie hat gedacht, alle Männer würden ihr nachpfeifen, weil sie so klasse aussieht«, sagt Alex.
    Jetzt verstehe ich, warum Scottie dramatische Ereignisse inszenieren muss, bei denen es sich lohnt, sie mehrfach zu präsentieren. Sie sucht nach einer perfekten Opfergabe, einer potenziellen Legende. Ich schaue auf meine Füße hinunter, wie sie durch den Sand stapfen. Mir passiert nie etwas, was man immer wieder auftischen kann. Höchstens die letzten Tage.
    Sid holt uns ein, und ich weiß, dass er etwas anderes als Zigaretten geraucht hat. Er ist bekifft. Seine Augenlider hängen, und er grinst dümmlich. Mich ärgert es, dass er sich nicht einmal die Mühe macht, es zu kaschieren.
    »Was liebst du an Mom?«, fragt mich Scottie.
    Aus irgendeinem Grund schaue ich Alex an, als wüsste sie die Antwort. Ihr Gesicht ist erwartungsvoll.
    »Ich liebe … ich weiß auch nicht … ich liebe die Dinge, die wir beide mögen. Einfach unsere Art zusammen zu sein.«
    Alex’ Blick wird kritisch, als würde ich kneifen.
    »Zum Beispiel gehen wir beide gern essen. Wir lieben unsere Motorräder.« Ich lache und sage dann: »Wir lieben die Schnitte in Liebesfilmen. Das haben wir einander eines Abends gestanden.« Ich grinse in mich hinein, und die Kinder starren mich verständnislos an. Ich warte darauf, dass Scottie mich fragt, was Schnitte sind, aber sie fragt nicht. Sie sieht fast wütend aus.
    Vor uns geht ein Pärchen Hand in Hand.
    »Ich

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