Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mit deinen Augen

Mit deinen Augen

Titel: Mit deinen Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kaui Hart Hemmings
Vom Netzwerk:
kippelt. Das erinnert mich an ihre Mutter. Joanie konnte nie mit allen vier Stuhlbeinen auf dem Boden bleiben.
    »Mom ist okay«, sage ich. »Ich habe angerufen. Sie atmet, und auch sonst ist alles okay.«
    »Das ist gut«, sagt Alex.
    »Du gibst dir mehr Mühe mit Scottie«, sage ich. »Danke.«
    »Sie ist trotzdem eine Nervensäge.«
    »Sie ist noch klein. Aber sie ist nett. Ehrlich, so übel ist sie gar nicht.«
    »Aber diese Reina!«, sagt Alex. »Pausenlos redet sie von ihr. Zum Beispiel hat sie mir erzählt, Reina hätte einem Jungen erlaubt, ihr Loch zu lecken. Genauso hat sie sich ausgedrückt: ›ihr Loch lecken‹.«
    »Was ist nur mit euch Kindern los?«
    »Und angeblich sagen Reinas Eltern, wenn sie sechzehn ist, kann sie sich die Titten operieren lassen, weil dann die Pubertät vorbei ist.«
    »Dieses Mädchen ist das Letzte«, sage ich.
    Es macht mir Spaß, über Sachen zu reden, die bei anderen Mädchen schieflaufen. Ich stütze die Füße gegen das Geländer und lasse meinen Stuhl jetzt auch nach hinten kippen. Das Hotel ist in die Klippen gebaut. Ich schaue hinunter auf die Bucht, die Menschen sind kleine Punkte, die Schaumkronen sehen aus wie winzige Wölkchen an einem dunkelblauen Himmel. Links erstreckt sich die Na Pali-Küste bis zum Horizont. Alex starrt wütend auf den dunklen Ozean, als wäre das Meer an allem schuld.
    »Und du, Alex? Geht’s dir gut? Du … du nimmst nichts, oder?«
    »Ob ich was nehme ? Gott, du klingst wie ein Depp.«
    Ich sage nichts.
    »Nein«, sagt sie dann. »Ich nehme nichts.«
    »Gar nichts?«, frage ich. »Ich rieche Gras. Bei Sid.«
    »Das ist Sid«, sagt sie. »Nicht ich.«
    »Du hast aufgehört, einfach so? War das nicht schwer? Es ist doch eine Sucht.«
    Ich muss daran denken, dass wir sie nie sicherheitshalber in eine Entzugsklinik gesteckt haben. Sie hat uns davon überzeugt, dass sie keine Probleme hat, und für mich war es leichter, einfach zu vergessen, wie gut sie lügen kann.
    »Es ist keine Sucht«, sagt sie. »Klar, irgendwie schon, aber nicht bei mir. So kaputt bin ich nicht.«
    »Du hast einfach aufgehört?«
    »Ja, Dad. Das war keine große Sache. Jugendliche nehmen Drogen, dann hören sie wieder auf. Außerdem habt ihr mich doch aufs Internat geschickt, schon vergessen? Ich hab nichts mehr gekriegt. Ich denke, Mom wusste, was sie tut.«
    Ich habe keine Ahnung, wie ich auf das alles angemessen reagieren soll. Meine Mutter wäre in Tränen ausgebrochen und hätte sich in ihr Zimmer zurückgezogen. Mein Vater hätte mich zu den Marines geschickt. Oder er hätte mich erschossen. Joanie hat sie rausgeworfen, was auch nicht viel besser war, aber was ist meine Rolle dabei? Ich habe nichts angeleiert. Keine Entzugsklinik, keine Therapie, keine Familiengespräche. Es war bestimmt nicht richtig, dass wir, dass ich sie weggeschickt habe, aber es war das Einfachste. Ich habe den Konflikt aus der Ferne beobachtet, habe mich rausgehalten, als würden Alex und Joanie über ihr Kleid für den Abschlussball diskutieren.
    »Ich nehme keine Drogen mehr«, sagt Alex. »Aber ich finde immer noch, dass es geil war.«
    »Warum bist du so ehrlich zu mir?«
    Sie zuckt die Achseln und lässt den Stuhl landen. »Mom liegt im Sterben.«
    Ein Teil von mir weiß, dass Alex klarkommen wird, dass sie sogar sehr gut klarkommen wird. Ich glaube ihr, dass die Drogen nur eine Phase waren, ein vorübergehendes Phänomen. Vielleicht habe ich nichts unternommen, weil ich zu wenig Angst habe, um wirklich ein guter Vater zu sein. Ich erinnere mich genau, wie es war, ein Kind zu sein, der Sohn meiner Mutter und meines Vaters. Wenn ich Mist gebaut habe, wusste ich, genau wie Alex, dass ich nie ernsthaft in Schwierigkeiten geraten würde, auch wenn ich mich noch so anstrenge.Vielleicht hassen die Kinder reicher Eltern diese privilegierte Stellung und entwickeln deshalb schon in frühen Jahren zerstörerische Neigungen. Wir wissen: Irgendjemand wird uns auffangen. Irgendwie kommen wir da wieder raus. Wir landen garantiert nicht auf der Straße. Ich hatte mit meinen Freunden irgendetwas ausgefressen, und blitzschnell verwandelten sich unsere Eskapaden in Anekdoten, die am Familientisch erzählt wurden. Irgendwie fühlte ich mich immer als Versager - als würde ich es einfach nicht schaffen, so tief zu sinken wie andere. Ich frage mich, ob sich Alex so ähnlich fühlt: wie eine erfolglose Verliererin.
    »Ich bin stolz auf dich«, sage ich, weil im Fernsehen die Väter nach einem offenen

Weitere Kostenlose Bücher