Mit dem Teufel im Bunde
der große hohe Raum, in dem Töne so weit wie trügerisch trugen, hatte sie genarrt. Da war niemand. Die Stille und die Untätigkeit des Körpers ließen sie plötzlich ihre Müdigkeit spüren, die Nacht war viel zu kurz und aufregend und der Tag zu geschäftig gewesen.
Bergstedt hatte sich mehr denn je bemüht, ihr alles abzunehmen, doch sie hatte es nicht zugelassen. Er war ihr nahezu unentbehrlich geworden, das machte sie wachsam. Es würde ihm nicht gelingen, sich in die Position des Handelsherrn zu drängen. Höchste Zeit, ihn wieder einmal spüren zu lassen, dass er nur ihr Schreiber war und bleiben würde. Auch wenn sie sich hin und wieder dabei ertappte, seine schmeichelnde Stimme und den Blick seiner dunklen Augen als überaus angenehm zu empfinden.
Sie fuhr mit der Hand durch die Luft, wischte die Gedanken fort, um sich Wichtigerem zuzuwenden, nämlich der besten Strategie, ihrem nächtlichen Feuerteufel zu begegnen.
‹Ein Teufelchen›, dachte sie, ‹nur ein hilflos zappelndes Teufelchen.› Ihr leises Lachen klang in der Weite des Kirchenschiffs hohl.
Wieder knarrte es, diesmal klang es nach alten Dielen. Gegen alle Vernunft spürte sie eine Kälte im Nacken, sicherschlich nur der Kirchendiener herum, der ohne zu stören nachsehen wollte, ob sie fort war, und prüfte, ob sie auch die Kerzen gelöscht hatte. Aber nein, das Knarren, ein wahrhaft schleichendes Knarren, kam von der Orgelempore fast direkt über ihrem Kopf. Sie blinzelte nach oben in die Dunkelheit, dort war jemand, das spürte sie. Doch bevor sie rufen oder jemanden erkennen konnte, fiel etwas Dunkles schwer und schnell herab. Ein Klotz aus harter alter Eiche zerschmetterte ihr Schlüsselbein, Schulterblatt und -gelenk , die schrundige Kante zerriss die zarte Haut und drang in den Hals. Sie schlug zugleich gegen ihren Kopf und raubte ihr das Bewusstsein.
Sibylla van Keupen spürte nicht mehr, wie das Blut aus der zerfetzten Halsschlagader quoll, wie das Leben aus ihr herausfloss.
KAPITEL 3
MITTWOCH, 28. OKTOBER
«Madam Vinstedt», murmelte der alte Mann und zupfte fahrig am Ärmel seines fadenscheinigen Rockes. «Vinstedt, sagt Ihr? Vinstedt?»
Er rückte umständlich seine Brille zurecht, was wegen des verbogenen Drahtgestells wenig nützte, es schien kaum jünger als er, der schon vier Jahrzehnte die Akten des Waisenhauses führte. Sein runzeliges Gesicht wurde noch runzeliger. Wenige Minuten zuvor hatte er die junge Frau mit vielen Verbeugungen auf den Stuhl vor seinen Schreibtisch komplimentiert, nun blinzelte er sie misstrauisch an. Er musste endlich bessere Augengläser auftreiben. Bei ihrem Eintreten hatte er sie für eine der Damen gehalten, deren Gatten würdige Stellungen als Gelehrte innehatten oder eine präsentable Handlung führten. Doch, doch, sie erschien würdig, war adrett gekleidet, nicht zu tief dekolletiert, auch hübsch, wirklich hübsch, dieses Näschen und die Taille …
Doch dieser Name? Er war ihm nicht vertraut, aber da war etwas gewesen. Er musste sich nur erinnern. Ein unwilliges Knurren entfuhr ihm. Ständig sollte er sich an etwas erinnern. Wie konnte man das, wenn man das Wohl von mehr als siebenhundert Kindern zu verwalten hatte, von denen vierhundert über die ganze Stadt und das Umland verteilt lebten? Niemand konnte sich an alles erinnern. Doch dieser Name …
Sein Blick glitt an der Besucherin vorbei zum Fensterhinaus. Er wäre gerne aufgestanden, um es zu öffnen. Das tat er gewöhnlich, wenn sein Kopf ihm eine Auskunft verweigerte. Das Waisenhaus stand auf einer in den Binnenhafen ragenden Landspitze zwischen Alster- und Rödingsmarktfleet, an seinem Fenster fühlte er sich selbst nach all den Jahren noch wie am Bug eines Schiffes. Das machte seine Gedanken freier, manchmal sogar mutiger. Dass dieses vermeintliche Schiff unverrückbar fest im Hafen lag, war ihm angenehm, zu viel Freiheit und gar die Endlosigkeit der Ozeane waren nie seine Sache gewesen.
«Nun, Madam», sagte er, um ein bisschen Zeit zu schinden, «Ihr wollt also eines unserer Kinder in Kost nehmen, das ist löblich, fürwahr löblich. Und patriotisch gedacht. Zudem einen Jungen, das ist gut, sehr gut. Ja. Die Leute in der Stadt nehmen lieber Mädchen, jedenfalls, solange sie klein sind. Wenn sie erst in dieses Alter kommen», er zog die Oberlippe über lange gelbe Zähne, «dieses bestimmte Alter, Ihr wisst, was ich meine, dann sind sie oft schwer zu halten. Die Jungen hingegen – natürlich sind sie wohlerzogen,
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