Mit dem Wolf in uns leben. Das Beste aus zehn Jahren Wolf Magazin (German Edition)
Sommer und Winter die in der Brooks Range lebende Karibupopulation zurückgeht, zeigt der Wolf am ehesten seine Fähigkeit, selbst die gesündesten Beutetiere zu fangen. Während der letzten Monate haben wir erfolgreich Jagden über eine Entfernung von sieben und dreizehn Kilometern aufgezeichnet. Bei beiden waren ein Wolf und ein Karibu beteiligt, wobei es nur wenige Karibus gab. Bei einer Begebenheit folgten Ahgook und ein anderer Nunamiut-Jäger einer frischen Jagdfährte von einem Wolf und einem Karibu über die Berge nordöstlich des Anaktuvuk-Passes. Beide, Wolf und Karibu, liefen zehn Kilometer über Tundra und gepressten Schnee. Als sie ein drei Kilometer langes Gebiet mit weichem, fünfundsiebzig Zentimeter tiefem Schnee erreichten, verlangsamten beide Tiere ihre Geschwindigkeit. Bei der Durchquerung dieses Areals veränderten sie ihre Geschwindigkeit alle neunzig bis hundert Meter alternativ vom Rennen zum Gehen. Es gab keinerlei Anzeichen dafür, dass der Wolf das Karibu auf diesem Gelände töten wollte, stattdessen versucht er einfach, dieselbe Geschwindigkeit beizubehalten. Als das Karibu den tiefen Schnee verließ und einen frei gewehten Hügel herunter rannte, holte der Wolf es ein und tötete es nach einer kurzen Siebzig-Meter-Jagd. Die gesamte Jagd überbrückte dreizehn Kilometer. Dieses Beispiel zeigt, über welche Entfernung die Wölfe Karibus jagen, wenn nur wenige gesunde Tiere zur Verfügung stehen. Es zeigt auch, wie sie absichtlich ihre Verfolgung unterschiedlichen landschaftlichen Bedingungen anpassen. Die Nunamiut haben sogar noch längere Jagden beobachtet.
Diese Beobachtungen unterscheiden sich sehr von den kurzen Jagden über wenige Hunderte Meter, die oft als Beweis für die Unfähigkeit des Wolfes herhalten müssen, andere als „schwache“ Tiere zu jagen. Die meisten dieser Beobachtungen wurden gemacht, als es relativ viele Karibus gab, während ihrer Wanderungen im Frühling und Herbst. Die Nunamiut sind davon überzeugt, dass Wölfe, besonders die jüngeren, kraftvollen Tiere, sich nicht immer den Karibus nähern, um sie zu töten. Es sind viele Fälle beobachtet worden, insbesondere in Zeiten des Überflusses an Karibus, bei denen es den Nunamiut so schien, als ob die Wölfe „spielten“. Sie beobachteten oft einen Wolf, der genau in dem Augenblick, in dem er eine gute Chance hatte, seine Beute zu fangen, von der Jagd auf ein Karibu abließ, nur um ein anderes Karibu zu scheuchen.
All dies zeigt, dass aus der Sicht der Nunamiut das Wolfsverhalten aus der Interaktion vieler unterschiedlicher Verhaltensmuster besteht, und zwar im Zusammenhang mit einer sozialen Ordnung, mit Umweltbedingungen und dem ständigen Erlernen von modifiziertem Verhalten. Jedoch interpretieren die Nunamiut das Wolfsverhalten in einem breiteren, komplizierteren Rahmen als die moderne Wissenschaft. Ihr tiefes Wissen, das sie aus geduldiger, bodenständiger Beobachtung gewonnen haben, hat sie gelehrt, dass die Anpassungsfähigkeit und Dehnbarkeit des ererbten Wolfsverhaltens mit dem der Menschen wetteifert.
(Robert O. Stephenson, Alaska Department of Fish and Game, und Robert T. Ahgook, Anaktuvuk Pass, Alaska; Wolves & Related Canids, Winter 1991, Wolf Magazin 2/1994)
Wer hat Angst vorm bösen Wolf?
„In Nordamerika hat es noch nie einen Fall gegeben, bei dem ein gesunder, wilder Wolf einen Menschen angegriffen hat.“
Wie oft haben wir, die wir uns mit dem Leben der Wölfe befassen, diesen Satz aufgegriffen und in Umlauf gebracht, ganz besonders, wenn wir versucht haben, auf Seminaren und Vorträgen auf die Ungefährlichkeit der Wölfe hinzuweisen.
Aber stimmt diese Behauptung wirklich? Hat es niemals eine Ausnahme gegeben? In letzter Zeit häufen sich die Berichte über angebliche Wolfsangriffe auf Menschen. Was ist wahr daran? Und vor allem, wenn Wölfe doch einen Menschen angreifen sollten, warum tun sie es – und warum greifen sie keine Menschen an?
Seit über 15 Jahren halte ich mich in der Wildnis in Wolfsgebieten auf. So lebte ich einen Winter lang im nördlichen Minnesota an der kanadischen Grenze in einer Blockhütte mitten im Wolfsterritorium. Fast jede Nacht habe ich Wölfe heulen gehört und fand am Morgen danach ihre Spuren im Schnee in der Nähe der Hütte. Und wenn das Nordlicht besonders schön war, schlief ich auch oft in meinem warmen Schlafsack im Freien, begleitet vom nahen Gesang der Wölfe.
Angst habe ich dabei nie gehabt; im Gegenteil, so sehr ich mir auch
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