Mit dem Wolf in uns leben. Das Beste aus zehn Jahren Wolf Magazin (German Edition)
wünschte, einen Wolf zu sehen, so bekam ich den scheuen Beutegreifer doch kaum zu Gesicht. Nur ganz selten einmal, in hellen Vollmondnächten, sah ich einige dunkle Schatten über den zugefrorenen See in der Nähe huschen.
Eines Morgens fand ich auf einer Schneewanderung einen frisch getöteten Hirschen. Er war bereits aufgerissen und die Innereien dampften noch warm in der Kälte. Im Schnee sah ich viele Wolfsspuren. Ich musste das Rudel also von seiner Nahrung aufgescheucht haben. Ich war allein, und sie waren mindestens fünf große, hungrige Wölfe, deren Kiefer so stark sind, dass sie ohne Probleme den Schädel eines erwachsenen Elches aufbrechen können. Es ist klar, dass Wölfe mit Leichtigkeit einen Menschen töten könnten. Warum waren sie also weggelaufen, statt mich anzugreifen und ihre Beute zu „verteidigen“? Einen Bären hätte ich nicht so leicht verjagen können.
Können Wölfe eine echte Bedrohung für Menschen sein? Haben sie jemals Menschen angegriffen? Es ist eine uralte Frage, beladen mit Aberglauben und Ängsten.
Unzählige Fachleute haben leidenschaftlich beteuert, dass die wilden Hunde den Menschen nicht gefährlich werden können. Selbst in Kanadas nördlichster Wildnis, wo Wölfe nur sehr wenigen Menschen begegnen, scheint die Spezies instinktiv zu wissen, dass man uns besser alleine lässt, dass wir eine übermächtige Kreatur sind, die auf sichere Distanz gemieden oder toleriert werden muss.
Der Biologe Douglas Pimlott erklärte den Respekt des Beutegreifers vor Menschen auf der Grundlage der Körpersprache: „Wölfe haben die instinktive Fähigkeit Aggression oder Angst zu erkennen, die sich auf ganz unterschwellige Weise durch unser Verhalten oder unsere Taten ausdrücken. Wir bewegen uns ganz bewusst so wie viele Beutegreifer. Wir schleichen uns leise durch die Wälder und streifen selbstbewusst über die Felder, so wie ein Wolf, der auf der Suche nach Nahrung sein Gebiet durchstreift.“ Nach Ansicht von Pimlott können unsere Aktivitätsmuster den Wölfen zu verstehen geben, dass wir gleichgestellte Jäger sind – nicht Beute.
Dave Mech, der bekannteste Wolfsexperte Nordamerikas, sieht einen weiteren Grund, warum Wölfe keine Menschen angreifen, darin, dass die Menschen aufrecht auf zwei Beinen gehen. Keine Beute des Wolfes tut dies. Außerdem stehen Bären manchmal auf ihren Hinterbeinen, und im Allgemeinen versuchen Wölfe, Bären zu meiden.
Dick Dekker, Wolfsforscher aus Kanada, kommt zu der Überzeugung: „Der wahre Grund, warum Wölfe Menschen anders als andere Kreaturen behandeln, kann in der Tatsache gefunden werden, dass die Indianer und Weißen Nordamerikas schon immer die Fähigkeit hatten, auf Distanz – mit Pfeilen oder Kugeln – zu töten. Die Wölfe müssen aufgrund ihrer Intelligenz und Lernfähigkeit die magischen Kräfte der Menschen vor langer Zeit erkannt haben, und die Spezies hat ihr Misstrauen indirekt oder direkt an ihren Nachwuchs weitergegeben. Wenn sie auf Spuren oder den Geruch von Menschen treffen, dann kann die Reaktion der Wolfseltern ihren Welpen instinktiv beibringen, dass man diese Wesen nicht jagt, sondern besser ignoriert oder sogar fürchtet.“
Aber wie war es früher? Im 18. Jahrhundert, als die ersten Europäer über die westlichen Prärien reisten, waren Wölfe nicht abgeneigt, menschliche Körper zu fressen. Während des Winters war es Brauch bei den Indianern, ihre Verstorbenen, in Felle eingehüllt, auf Gestelle in die Bäume zu legen – außerhalb der Reichweite von Aasfressern. Wenn der Boden aufgetaut war, beerdigten sowohl Indianer als auch Weiße ihre Toten in der Erde und bedeckten die Gräber mit schweren Steinen. Die Tagebücher der ersten europäischen Scouts jedoch zeigten keinerlei Hinweis darauf, dass Wölfe von den Menschen als gefährlich angesehen wurden.
Im Gegensatz zu Nordamerika ist es unbestritten, dass Wölfe in Europa Menschen angegriffen und getötet haben, besonders in südlichen Ländern, wo Teile der Zivilisation tief in die rauen Berge reichen. Die europäischen Bauern waren keine Jäger, verdienten jedoch ihren Lebensunterhalt auf den Feldern oder durch das Halten von Nutzvieh.
Ein berüchtigter und gut dokumentierter Fall von Wölfen, die Menschen töteten, geschah in Frankreich zwischen 1764 und 1767 als die „Bestie von Gévaudan“ über hundert Menschen verwundete, von denen vierundsechzig (meist Kinder) starben. Es hörte erst auf, als zwei Tiere getötet wurden, beide sehr groß und über
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