Mit dem Wolf in uns leben. Das Beste aus zehn Jahren Wolf Magazin (German Edition)
die Forscher Wölfen, die relativ wenig Angst vor Menschen haben, vermutlich, weil die Tiere dort niemals bedroht oder bejagt worden sind. Boyd arbeitet seit zwölf Jahren am Wolf-Ökologie-Projekt der Universität von Montana in Missoula. Die scheuen Wölfe im Glacier-Nationalpark, mit denen Diane Boyd sonst arbeitet, stehen in bemerkenswertem Kontrast zu den Wölfen der Arktis, die es Diane nicht nur erlaubten, sich zu nähern, sondern ihr auch ermöglichten, ihre Erfahrungen mit Nahbeobachtungen zu erweitern und überdies ein anderes Land zu entdecken.
Ich bin sechshundert Meilen südlich vom Nordpol und lebe in einer Landschaft, die aussieht wie eine Hybride aus Mond, östlichem Montana und Alaska. Wenn man dort einen Baum umarmen will, tut man es mit Daumen und Zeigefinger, weil die Weidenbäume dort einen Durchmesser von der Stärke eines Bleistiftes haben und nicht höher als zehn Zentimeter sind. Dies ist alter, arktischer Baumwuchs. Die Arktis ist eine Wüste mit weniger als einhundertzwanzig Millimeter Niederschlag pro Jahr.
Die Eisberge sind wahrhaft erstaunlich in Form, Farbe und Ausmaß. Jeder einzelne ist eine unglaublich schöne Skulptur, deren Erschaffung lange vor Michelangelos Geburt begann. Das Eis des Meeres brach in dieser Woche rapide auf und befreite die Eisberge aus ihrer winterlichen Verankerung. Vor mir sehe ich zwei, der eine ist geformt wie ein Schleppkahn und der andere wie das Ungeheuer von Loch Ness. In den letzten zwei Stunden haben sie sich um ein paar Hundert Meter weiter bewegt. Am besten kann man ihre Farben zwischen ein und drei Uhr morgens genießen und fotografieren.
In der Hohen Arktis gibt es in den Sommernächten noch nicht einmal den Anschein einer Dunkelheit. Die Qualität des Lichtes hier ist klar, aber von der pastellenen Qualität nasser Wasserfarben. Zwischen Mitternacht und vier Uhr morgens nimmt das Licht eine goldene Färbung an und zeigt dabei den Reichtum der arktischen Landschaft. Vom felsigen Unterland her gesehen, scheint dies alles ein Ödland zu sein. Aber man braucht nur über das Meer zu schauen oder die rauen Bergspitzen, eingewoben in Gletscher, oder die baumlose Tundra mit Spuren von Karibus, Moschusochsen und Wölfen.
Die Wölfe – sie sind der Hauptgrund, warum ich hierher gekommen bin. Eigentlich dachte ich noch vor meiner Ankunft, dass sie der einzige Grund für meine Anwesenheit hier seien. Aber mein „einziger“ Grund hat sich ausgeweitet auf dieses gesamte Gebiet der Wölfe. Es ist mein „Seelengrund“ geworden. In diesem so fremden Land scheinen all meine Sinne gleichzeitig an meiner Seele zu ziehen.
Der arktische Mohn richtet seine kleinen gelben Blüten nach der Sonne auf und rotiert auf langen, dünnen Stängeln, um die Sonne einzufangen, die den Himmel in einem Radius von 360 Grad umkreist, niemals untergeht und niemals wirklich hoch steigt. Die Arktis zieht mich an, so wie die Sonne den Mohn anzieht. Und trotzdem fühle ich mich zur gleichen Zeit fehl am Platz, nicht mehr im Einklang mit der Natur, und wundere mich, warum dieses vierundzwanzigstündige Sonnenlicht meine biologische Uhr so durcheinanderbringt, dass ich die ganze Nacht auf bin und tagsüber schlafe. Und selbst dann fällt es mir schwer, zu schlafen, so als ob mein Adrenalinspiegel ständig auf dem Höhepunkt ist. Ich will nicht schlafen, weil ich sonst etwas verpassen könnte.
Meine Wahrnehmungsfähigkeit ist ebenfalls gestört, mit weit entfernten arktischen Kaninchen, die wie Eisbären aussehen, und einer Bergkette, die aussieht, als sei sie eine Halbtagswanderung entfernt, für die ich aber doch nur eine Stunde benötige, um sie zu erklimmen. Mein Geruchssinn sehnt sich nach dem Geruch von Leben, sei es nun eine Pflanze, ein Tier, Bakterie oder auch ein Pilz. Dies ist wirklich ein steriler Ort für eine menschliche Nase. Sogar das Meer erschlägt einen nicht mit seinem vorherrschenden Strandduft von Seetang und Salzwasser. Es gibt keinen Unterschied im Geruch zwischen dem Fjordstrand, den Felsen und den grünen Hügeln von Tundrapflanzen.
Die Möglichkeiten für Wanderungen sind unbegrenzt in so unterschiedlichem Gelände, wie man es sich nur erträumen kann: felsige Bergketten, versteckte Täler, schneebedeckte Gipfel, sanfte, hügelige arktische Prärie und Küstenstrände. Es ist alles da. Die einzige Konstante ist der Wind. Er ist ebenso ruhelos wie die helle Sonne, wenn man schlafen will.
Meine Zeit ist aufgeteilt in drei Aktivitäten: schlafen, Wölfe
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