Mit dem Wolf in uns leben. Das Beste aus zehn Jahren Wolf Magazin (German Edition)
beobachten und Erforschung des Landes – aber nicht unbedingt in dieser Reihenfolge. Die Wölfe sind dem menschlichen Eindringling gegenüber tolerant; und es ist ein Eindringen, wie sehr die Tiere sich auch bemühen vorzugeben, dass ich nicht da bin.
Aber sie nehmen meine Gegenwart hin und benehmen sich so, als ob ich nicht da wäre. Sie schlafen, spielen, jagen, füttern ihre Jungen, schlafen, gähnen und legen sich wieder anders hin, schlafen, spielen mit den Jungen, schlafen. Und ich habe den einzigartigen Einblick in das Leben von Wölfen in diesem Rudel. Von ihnen als Teil ihrer Umwelt akzeptiert zu werden, ist so ein Privileg! Es ist so selten, Wölfe in den Rocky Mountains zu sehen, wo ich lebe und arbeite, viel seltener noch, sie täglich und so nah zu beobachten, wie ich es hier kann.
Ich glaube wirklich, dass nichts Anbetungswürdigeres atmet als ein sechs Wochen altes Wolfsbaby. Vergeben Sie mir. Diese objektive Forscherin und Wissenschaftlerin fällt zurück in ein total unwissenschaftliches Kauderwelsch. Selbst die hartgesottensten Biologen konnten derartige Anfälle der „Süßen“ nicht verhindern, wenn sie beobachteten, wie diese tollpatschigen Fellknäuel verschmitzt herumtollten. Keine Versuchung, einen dieser Welpen zu halten und zu umarmen – mich schüttelt es bei dem Gedanken, wie ein solcher Welpe mein Gesicht mit wütenden, nadelspitzen Zähnchen zerkratzen würde. Ich denke an ihre erstaunlich ernsthaften Schrammen, die sie schon in jungen Jahren bei Kämpfen ums Futter erhielten, und wie wenig sie in diesem Zusammenhang mit Haushunden gemeinsam haben.
Die Wildheit der Jungen wird ihnen viel nützen, wenn sie in diesem Winter mit dem Rudel jagen und versuchen, einen einzelnen Moschusochsen aus der Herde herauszutreiben. Ein Kreis zotteliger, schnaubender, prähistorischer Ungetüme, nur Köpfe und Hörner, während die Wölfe auf sie lospreschen in der Hoffnung, die stehende Formation zu durchbrechen und sie zum Rennen zu bringen, damit sie ein einzelnes, verletzliches Opfer aussortieren können. Äonen alt ist er, dieser Kreis von Räuber und Beute. Es scheint so paradox, dass mickrige Menschen durch die reine Macht ihres Gehirns das ultimative Raubtier auf diesem Planeten geworden sind, und dennoch keinerlei Verständnis vom Verhalten eines Beutegreifers haben. Wir haben endlose Kriege gegen diese Tiere angezettelt und sie zu Millionen getötet. Millionen.
Die ersten Menschen haben vor 500 bis 1000 Jahren die Hohe Arktis betreten. Diese Vorfahren der Inuit, Thulen genannt, lebten an Land und auf dem Meer, jagten Seelöwen, Walrosse, Wale, Moschusochsen und Karibus. Die Lagerplätze der Thulen sind auch heute noch als Gruppen von Steinringen sichtbar, wo ihre Zelte standen. Zerbrechliche, von Flechten bedeckte Tierknochen erzählen uns, was sie aßen und erlauben einen winzigen Einblick in ihr Leben. Während ich durch die Thulen-Ruinen laufe und hinaus in den Fjord zu den Eisbergen schaue, erfüllt mich der Geist dieser Menschen und ihres Landes. Ich versuche mir ihre Kajaks aus Tierhäuten vorzustellen, die auf den Strand gezogen sind, das Lachen der Kinder, die guten und die schlechten Zeiten. Ich gehe hinüber zu einem entfernten Hügel gebleichter Knochen auf einem Berg über dem Fjord und den Steinringen, und ich finde einen Kreis von Moschusochsen-Schädeln, die das Dorf überblicken. Warum wurden sie hierher gelegt? Ich habe meine eigenen Gefühle hierzu. Wie töteten sie die Moschusochsen? Über Tausende von Meilen gab es kein Holz, mit dem man Speere oder Pfeil und Bogen machen kann. An Moschusochsen-Sprünge, wie Büffel-Sprünge zu denken, wie sie die Indianer des Westens benutzten, zu denken, wäre lächerlich. Das Land bietet keine tödlichen Klippen, die von Plateaus abfallen und über die man Tiere treiben könnte.
Waren diese Thulen Opportunisten, die von den Kadavern der Moschusochsen lebten, die von Wölfen getötet worden waren? Wölfe und Thulen – was war ihr Verhältnis zueinander? Während mich diese Gedanken beschäftigen und ich die Ruinen untersuche, werden meine Augen von einer bekannten Knochenform angezogen, die fast gänzlich unter zehn Jahre alter, langsam kompostierender, arktischer Erde begraben ist. Auf natürliche Weise freigelegt ist hier ein Teil der rechten Seite eines Schädels und ein Backenzahn. Ich fotografiere die Teile, bevor ich mit einer vorsichtigen Untersuchung der Knochen beginne. Langsam grabe ich mit meinen Fingern und einer
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