Mit dem Wolf in uns leben. Das Beste aus zehn Jahren Wolf Magazin (German Edition)
weit offenem Fang an. Kalak sah die langen Dolche im Maul des Langzahns aufblitzen, die sich im nächsten Augenblick um seinen Hals legten. Er stolperte und mit einem gnadenlosen Ruck brachte ihn der Langzahn zu Fall. Er versuchte Luft zu holen, doch die gierigen Hauer seines Feindes drückten mit mörderischer Kraft seine Kehle zu.
Shiiha sah, wie ihr kleiner Kalak auf sie zugerannt kam. Mit einem Sprung verließ er den Bereich des hochgewachsenen Grases am Waldrand. Wie war er dahin gekommen? Sie hatte nicht sorgfältig genug auf ihn aufgepasst. Dies war der gefährlichste Bereich der Lichtung, der Lauervorposten der Langzähne und anderer Räuber. Und wie zur Bestätigung ihrer Befürchtungen folgte ein grauer Langzahn ihrem Kalb, erreichte es und sprang es an, bohrte seine Zähne in Kalaks Hals, riss ihn um und drückte seine Beute mit seinem Körper zu Boden. Die Beine Kalaks schlugen hilflos in der Luft, während der Langzahn gnadenlos das Leben aus ihrem Sohn herausdrückte.
Shiiha verdoppelte ihre Anstrengungen und war nun nicht mehr die scheue, sanftäugige Hirschkuh, sondern eine Rachegöttin, die Verteidigerin ihres hilflosen Nachwuchses, für die die Gefährdung ihres eigenen Lebens nicht mehr wichtig war. Dann erreichte sie endlich ihren Sohn, stieg auf die Hinterbeine, ihre Hufe trafen den Langzahn direkt am Kopf. Aufjaulend ließ die Bestie von Kalak ab. Wieder und wieder trat sie zu. Der benommene Langzahn rollte über den Boden, krümmte sich, und Shiihas Tritte nagelten auf seinen Körper. Befriedigt hörte sie das hässliche Geräusch brechender Rippen. Nochmals trat sie mit voller Wucht nach dem wimmernden Langzahn: für Kalak, ihren Sohn, für Sehlani, ihr Kalb, das den grauen Mördern auf dieser Lichtung vor zwei Wintern zum Opfer gefallen war. Und auch für Elkarra, den Platzhirsch, den die stinkenden Teufel im Winter in den Sumpf getrieben und bei lebendigem Leibe ausgeweidet hatten. Jedes Jaulen und Wimmern der sich windenden grauen Kreatur unter ihr war eine Befriedigung für Shiiha, eine Heimzahlung für Elkarras verzweifelte Todesschreie, die sie damals mit anhören musste. Die Rippen des Langzahns krachten genauso schrecklich wie damals Sehlanis dünne Wirbelsäule unter den Hauern ihrer Mörder. Mit beiden Hufen hieb sie nach dem spitzen, hässlichen Schädel des Räubers. Es krachte und Blut spritzte ins grüne Gras, klatschte auf Shiihas Läufe.
Endlich begann ihr Zorn nachzulassen. Der Langzahn rührte sich nicht mehr. Sie schnaubte, blickte sich nach Kalak um, der wieder zitternd auf die Beine gekommen war, stupste ihn an, leckte kurz seine glücklicherweise nicht sehr schlimme Halswunde. Sie war gerade noch rechtzeitig gekommen; ein oder zwei Sekunden später, und der Langzahn hätte ihrem Kalb die Kehle zerquetscht. Erstaunlich schnell schüttelte das Hirschkalb den Schock ab, wusste instinktiv, was es tun musste und lief vor seiner Mutter, so schnell sein kleiner, ausgepumpter Körper es zuließ, in den Schutz der Bäume. Shiiha deckte seinen Rückzug. Denn wo ein Langzahn war, waren mit Sicherheit auch noch weitere.
Kurz vorher hörte Fasthowl einen spitzen Angstschrei. Ausgestoßen von dem kleinen Hirschkalb, ein dunkles, triumphierendes Knurren, wieder ein kurzer Schrei des Kälbchens, der mit einem Gurgeln abgewürgt wurde. Dann folgte ein dumpfer Aufprall, den er sogar als Bodenvibration in seinen Laufsohlen bemerkte. Ein weiterer Schrei ertönte. Dunkler und kräftiger. Der Wutschrei eines erwachsenen Hirsches. Er befand sich immer noch in der Zone des hohen Grases und rannte weiter. Ein schmerzvolles Jaulen durchdrang das Gras: Stormchaser! Nochmals jaulte sein Bruder auf, dumpfe Schläge folgten in rascher Folge. Dann Ruhe. Kurze Zeit später wieder dumpfes Hufgetrommel, und als er endlich die Lichtung erreichte und freies Blickfeld bekam, sah er eine Hirschkuh mit einem Kalb in gewaltigen Sätzen im Wald verschwinden.
Auf der Lichtung lag ein graues Fellbündel.
Stormchaser!
Fasthowls erster Gedanke war: „Alleine hat er es nicht geschafft, und nun liegt er abgehetzt im Gras. Wartet auf die anderen.“
Langsam näherte er sich seinem liegenden Bruder und ihm dämmerte, dass etwas mit ihm nicht in Ordnung war. Wenn er wirklich abgehetzt war, müsste er hecheln. Und außerdem lag Stormchaser so merkwürdig auf dem Boden, verkrümmt, regelrecht „verwunden“. Sein ansonsten glattes, glänzendes Fell war zerrupft, stumpf, und es roch nach Blut. Und es war kein
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