Mit dem Wolf in uns leben. Das Beste aus zehn Jahren Wolf Magazin (German Edition)
Hirschblut!
Es war sein eigenes Blut! Stormchaser lag in seinem Blut und bewegte sich nicht mehr. Fasthowl stupste ihn an. Der Körper seines Bruders war schlaff. Kein Muskel regte sich unter seinem Fell. Dicke blaue und grüne Fliegen fingen an, ihn zu umsurren. Setzten sich auf seine offenen und stumpfen Augen, ohne dass Stormchaser sie vertrieb oder zumindest blinzelte.
Warum stand er nicht auf? Er verhielt sich so merkwürdig. Er rührte sich überhaupt nicht. Kein Atem, kein leises Muskelzucken. Sein Kopf war voll Blut und seine Stirn seltsam eingedrückt. Auch seine Flanke war sonderbar verformt. Er war ... Er war ... Fasthowl dachte nach, und ein schreckliches Bild kristallisierte sich vor seinem inneren Auge: Er sah sich selber, wie er seine Zähne um den Hals des Hirschkälbchens legte, das ihnen ihre Mutter vor – wie es ihm nun schien – so unendlich langer Zeit mitgebracht hatte. Er sah noch einmal das Hirschkalb zucken und zappeln ... und dann in seinem Würgegriff erschlaffen. Stormchaser zeigte nun die gleichen leeren Augen wie damals der kleine Hirsch. Fasthowl traf die Erkenntnis wie ein Huftritt. Seine Beine gaben nach und mit hängender Rute und einem leisen Wimmern legte er sich neben seinen Bruder, stupste ihn erneut an, leckte vorsichtig seine Schnauze, als ob er das Geschehene damit wieder rückgängig machen könnte. Aber es war zu spät. Er würde nie wieder laufen, mit seinen Geschwistern herumtollen, sein helles, klagendes Heulen ertönen lassen. Stormchaser war durch das „Große Licht“ gegangen. Er war tot!
Erst als Blackmoon ihn von der Seite anstupste, erwachte Fasthowl aus seinen Gedanken. Die Annäherung seiner Geschwister war ihm nicht aufgefallen. Auch Windsong, das alte, untergebene Weibchen, das so oft für die Welpen als „Babysitter“ da war und diese Aufgabe auch noch als ihre Pflicht ansah, als die Welpen längst keine Welpen mehr waren, trat mit hängenden Schultern heran und stupste Stormchasers toten Körper mit der Schnauze.
Canis kannte viele Formen des Todes. Ihr Sohn Stormchaser war auf die ehrenvollste und höchste Art zu Tode gekommen: auf der Jagd nach Beute, um das Überleben des Rudels zu sichern. Er hatte seinem Namen und seiner Familie alle Ehre gemacht, und obwohl Canis schon viele ihrer Welpen und Familienmitglieder hatte sterben sehen, erfasste sie nun doch wieder die Leere, die sie schon so oft – zu oft – erfüllt hatte. Sie blickte hinauf zum „Großen Licht“, durch das Stormchasers „Wesen“ nun gegangen war. Die Öffnung der „Welt-Höhle“ durch die sie alle einmal gehen mussten. Kein Lebewesen, das die „Welt-Höhle“ durch das „Große Licht“ einmal verlassen hatte, konnte zurückkehren. Dort war das Reich ihrer Ahnen.
Stormchaser war von der „Ewigen Wölfin“, die die Mutter aller Wölfe war, in ihr Reich geholt worden. Denn diese Welt war nur eine Welpenhöhle, und das „Große Licht“ war der Ausgang in die „Unendliche Erstreckung“, wo Stormchaser nun als „Himmelswolf“ weiter lebte und durch den Sternenraum jagte.
Trotzdem spendete ihr auch dieses uralte Wissen nur wenig Trost, und sie wimmerte leise. Als Rudelmutter durfte Canis unter normalen Umständen keine Schwäche gegenüber den rangniederen Familienmitgliedern zeigen, wollte sie ihre Position nicht vorzeitig verlieren. Doch der Tod eines Mitgliedes der Rudeldynastie begrub für die Zeit der Trauer alle Rangstreitigkeiten.
Wieder hob sie den Kopf und intonierte den alten Klagegesang des Rudels, den sie zuletzt im sturmgepeitschten Winter nach Sunrays Ende angestimmt hatte. Nachdem Canis nach etwa einer halben Minute den Eröffnungspart beendete, fiel Windsong in die zweite Strophe ein, und auch Fasthowl bemerkte erst jetzt, dass er die alte, klagende Melodie kannte, und folgte ihr, ebenso wie seine Geschwister, mit seiner kräftigen, schnellen Stimme.
Der Gesang erzählte vom „Großen Licht“ und der „Welt-Höhle“, der „Ewigen Wölfin“, die so grausam und gleichzeitig doch so gut zu ihren Kindern war. Es war die Erzählung von den „Himmelswölfen“, ihren Ahnen, die mit der „Ewigen Wölfin“ zusammen über die Himmelskuppel jagten. Und nach dieser Erzählung, die Fasthowl zwar kannte, aber noch nicht richtig verstand, erklang der dritte und letzte Teil des Liedes. Der Teil, der jedes Mal aufs Neue komponiert wurde, der einmalig war und auch nur einmal und nie wieder gesungen werden würde. Es war die Leitstrophe für Stormchaser, die
Weitere Kostenlose Bücher