Mit den Augen eines Kindes
erzählte ihr Mann, als er Hanne gegen vier Uhr anrief. «Zum Glück war ich daheim», sagte Alexander Godberg, kurz Alex genannt.
Er hatte Notarzt und RTW alarmiert, Ella war bereits auf dem Weg ins Frechener Krankenhaus. In der Aufregung nach dem Sturz habe er nur leider nicht auf Oliver geachtet, bedauerte Alex, und unser Kleiner habe sich – vermutlich geplagt vom schlechten Gewissen – klammheimlich aus dem Staub gemacht.
Es passierte zwar zum ersten Mal, dass Olli die Flucht ergriff, aber angesichts der dramatischen Folgen seiner Nachlässigkeit zog Hanne das nicht in Zweifel – ich ehrlich gesagt auch nicht, als ich davon hörte.
Zum Glück war Hanne ebenfalls daheim, stieg sofort in ihr Auto und machte sich auf die Suche nach ihm. Auf halber Strecke kam er ihr entgegen und erzählte, nachdem sie ihn eingeladen hatte, eine Geschichte, in der erst mal gar keine Banane vorkam.
Seiner Version zufolge hatte er mit Sven im Garten gespielt, und plötzlich waren zwei fremde Leute im Wohnzimmer gewesen, ein Hell’s Angel und seine wüste Rockerbraut. Die hatten sich ganz laut mit dem Papa von Sven gezankt und Tante Ella geschubst. Deshalb war sie auf den Wohnzimmertisch gefallen und hatte geschrien. Und als Olli mal gucken wollte, ob Tante Ella sich sehr weh getan hatte, habe der Papa von Sven gebrüllt: «Schert euch zum Teufel!» Das hatte auch Olli als Rauswurf interpretiert und sich schmollend auf den Heimweg gemacht.
Wem sollte man glauben? Einem Erwachsenen oder einem fünfjährigen Knaben mit wild wuchernder Phantasie, der sich blendend darauf verstand, seine Sünden zu verschleiern?
Hanne konnte sich zwar noch vorstellen, dass Alex Godberg ihm – ohne das am Telefon zu erwähnen – Vorhaltungen gemacht und er deshalb die Flucht ergriffen hatte. Ausschimpfen ließ er sich nicht gerne. Von Mama musste er sich das gefallen lassen, aber nicht von anderen Leuten. Vom Rest glaubte Hanne ihm kein Wort, vor allem deshalb nicht, weil er in keinster Weise verstört war und bei einer eindringlichen Befragung einräumte, den Rest seiner Banane in den Garten geworfen zu haben und von Tante Ella zweimal aufgefordert worden zu sein, sie doch bitte in den Mülleimer zu bringen. Aber er hatte gerade so schön mit Sven gespielt, da hatte er nicht unterbrechen und in die Küche gehen können. Und da lag die Vermutung nahe, dass Ella in den Garten gekommen war, um zu tun, wofür er die Zeit nicht fand.
Hanne war stinksauer auf ihn und verlangte, als ich nach Hause kam, ich solle ein ernstes Wort mit ihm reden. Aber sie hatte ihm schon ordentlich die Leviten gelesen und ihm diesen Deal vorgeschlagen: Stubenarrest oder die Wahrheit. Da sie keinen Zweifel daran ließ, welche Wahrheit sie akzeptierte, schloss Olli sich notgedrungen Alex Godbergs Fassung an. Und ich verzichtete darauf, ihm nachdrücklich ins Gewissen zu reden.
Es war ohnehin eine Tragödie für ihn. Wochen ohne Sven, nicht mal vormittags im Kindergarten zusammen. Alex Godberg musste arbeiten und brachte seinen Sohn zur Schwägerin nach Frankfurt. Auch seine Frau ließ er nach der Erstbehandlung im Frechener Krankenhaus in eine Klinik nach Frankfurt verlegen. Da konnte Sven seine Mama wenigstens besuchen und fühlte sich nicht so verlassen oder abgeschoben.
Für Hanne war es ebenfalls eine mittelschwere Katastrophe. Sie mochte sich gar nicht vorstellen, wie lange Ella nun ausfiel. Das war so eine tolle Lösung gewesen. Keine unter Zeitdruck nörgelnde oder ob der Verantwortung lamentierende Oma. Kein Opa, der dem Enkel nachmittags etwas Spannung bot und ihn damit eventuell zu weiteren Missetaten inspirierte. Und wenn wir Pech hatten, war Ella nach ihrer Genesung nicht mehr bereit, unserem Kind nachmittags Obdach zu gewähren. Der komplizierte Armbruch mochte nach anderen Debakeln der Tropfen sein, der das Fass zum Überlaufen brachte.
Dienstags erbarmte Opa sich, vergaß seinen männlichen Stolz, holte Olli vom Kindergarten ab und beschäftigte ihn nach dem Mittagessen noch eine Weile mit der Eisenbahn. Bei der Gelegenheit erfuhr mein Vater, wie spannend es am vergangenen Nachmittag bei Godbergs zugegangen war.
Bei Opa musste Olli sich keine Zwänge auferlegen, schilderte in allen Details, sparte auch nicht mit Dialogen, was Hanne mit ihrem vehementen Beharren auf der Wahrheit unterbunden hatte. Das soll kein Vorwurf sein. Vielleicht hätte sie ihm zugehört, hätte er nicht ausgerechnet die Hell’s Angels ins Feld geführt. Mit Rockern hatten Alex
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