Mit den Augen eines Kindes
wurde. Hanne tat das nicht, dafür hatte ich ihr zu viel über Marens Vorliebe fürs Flötenspiel erzählt.
«Ich bleibe trotzdem hier», sagte ich. «Ich muss mir doch auch nicht freiwillig die Gesellschaft von Willibald Müller zumuten.»
Dass ich wegen einer missliebigen Person einen netten Abend im Kreise alter Freunde sausen lassen wollte, konnte Hanne nicht nachvollziehen. «Ich würde mich freuen, wenn meine Klasse mal so was veranstaltet. Über Müller kannst du doch hinwegsehen.»
«Das wird schwierig», sagte ich, «bei drei oder vier Zentnern.»
Hanne lachte. «Inzwischen dürften das fünf sein. Ich habe ihn neulich vor dem Getränkemarkt gesehen. Ihm fiel der Autoschlüssel aus der Hand, und er konnte sich nicht bücken, um ihn wieder aufzuheben. Das hat Oliver für ihn getan. Weißt du noch, Schatz?»
Olli erinnerte sich offenbar sehr gut, er nickte. Mir fiel seine Geschichte von dem Rex ein, der auf dem Parkplatz beim Getränkemarkt ein kleines Kind gefressen hatte. Ich musste grinsen, weil ich dachte, Schweinchen Dick habe ihn dazu inspiriert.
«Als er sich dann hinters Steuer legte», fuhr Hanne fort, «und er lag wirklich, Konrad, hatte er das Lenkrad in der Wampe stecken. So kann man doch nicht Auto fahren. Der Mann ist ein Risiko für jeden, der über die Straße läuft. Dem musste man den Führerschein wegnehmen.»
Damit hakte sie Porky ab und griff das Thema Klassentreffen erneut auf mit der Bemerkung: «Tu Peter Bergmann doch den Gefallen, Konrad. Er war mal dein bester Freund. Und wenn du dich nicht blicken lässt, heißt es garantiert, du kommst nicht, weil Maren nicht da ist.»
«Was es heißt, muss mich nicht kümmern», sagte ich.
Sie zuckte mit den Achseln. «Ich finde, du solltest hingehen – schon wegen deiner Mutter. Du hättest sie eben hören müssen. Peter Bergmann hat ihr wohl mehrfach versichert, dass Maren nicht dabei sein wird. Das hat sie ihm aber nicht geglaubt. Ich möchte nicht wissen, was für einen Vortrag sie ihm gehalten hat, weil er sich erdreistete, sie zu bitten, dich ins Verderben zu schicken. Erdreistet, den Ausdruck hat sie tatsächlich benutzt.»
Und so sprachen wir an dem Freitagabend nicht über Ella Godbergs Ehe, sondern nur über die Einstellung meiner Mutter zu gewissen Weibern und ihrem Vertrauen in meine Person.
Samstag, 24. Mai
Wie meistens am Wochenende schliefen wir etwas länger, frühstückten gemütlich, wobei Olli natürlich mit von der Partie war. So kam ich wieder nicht dazu, das Thema Godberg anzuschneiden. Nach dem Frühstück teilten wir uns die anliegende Hausarbeit, für Hanne den Staubsauger, für mich die Einkaufsliste.
Olli klemmte sich wie üblich an meine Fersen. Ich nutzte die Gelegenheit, ihn noch einmal zum Auftauchen der beiden Rocker am fünften Mai zu befragen und auch etwas über Ellas Bruder zu erfahren. Aber den kannte Olli nicht, wusste nur, dass Sven seinen Onkel nicht gerne besuchte. «Der Onkel Manfred trinkt nämlich viel Bier und sagt immer Heulsuse zu Sven. Er ist doch kein Mädchen.»
«Fährt Onkel Manfred ein Motorrad?», fragte ich. Das wusste Olli nicht. «Der darf ja nicht zu Tante Ella kommen. Der Papa von Sven will das nicht. Manfred ist
ein Prolet, hat er mal gesagt. Was ist das?»
«Ein Mann, der viel Bier trinkt», erklärte ich.
Was den fünften Mai betraf, inzwischen waren fast drei Wochen vergangen und die Zeit nicht unbedingt mein Bundesgenosse. Olli beteuerte zwar, alles noch ganz genau zu wissen. Er war nun jedoch der Ansicht, das seien eigentlich ganz liebe Rocker gewesen. Die Rockerbraut hätte verlangt, die Männer sollten sich nicht so anbrüllen, da bekämen die Kinder ja Angst, behauptete er. Sie hätte auch gefordert: «Lass uns gehen, Schatz.»
Und der Rocker hätte Tante Ella bestimmt nicht wehtun wollen. Als sie nämlich auf den Wohnzimmertisch gefallen war und laut geschrien hatte, hätte der Rocker gesagt: «Sorry, das wollte ich nicht.» Dann hätte er Tante Ella aufhelfen wollen, dabei wohl gesehen, dass ihr Arm kaputtgegangen war, und gebrüllt: «Um Gottes willen, sie braucht einen Arzt!»
Die Rockerbraut hätte ganz laut geweint und gejammert: «Jetzt sieh mal, was du angerichtet hast.»
Und weil der Papa von Sven sich nicht sofort bewegte, hätte der Rocker noch geschrien: «Steh nicht da wie eine Wachsfigur, du Arsch! Ruf einen Krankenwagen.»
Daraufhin wäre der Papa von Sven zum Telefon gelaufen. Das stand ja in seinem Zimmer neben dem Computer. Der Rocker hätte Tante Ella
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