Mit den Augen eines Kindes
Stunde später stoppte ich den Wagen am Straßenrand vor Godbergs Haus, beugte mich nach hinten und wollte Oliver aus seinem Sitz befreien, weil er keine Anstalten machte, auszusteigen. Er legte schützend die Hand aufs Gurtschloss und schaute mit einem ängstlichen, aber auch faszinierten Blick zum Haus. «Geh du, Papa.»
«Ist es mein Buch oder deins?» Es widerstrebte mir, selbst bei Godberg zu klingeln. Er kannte mich nur als einen Kollegen von Jochen Becker und mochte wer weiß was denken, wenn am Samstag plötzlich ein Polizist vor seiner Tür stand.
Zur Sicherheit duckte Oliver sich tiefer in seinen Sitz, lugte gerade noch mit den Augen durch die Scheibe. Die Hand behielt er auf dem Gurtschloss, seine Miene war eine einzige Bitte, er flüsterte nur noch: «Ich bleib lieber im Auto. Die böse Frau ist ja noch da. Wenn ich komme, ruft sie bestimmt den kleinen Mann.»
Unwillkürlich schaute ich ebenfalls zum Haus. Links neben der Tür lag ein Fenster, dahinter befand sich die Küche. Das wusste ich von meinem Rundgang nach dem Einstieg. Die untere Hälfte des Fensters war mit einer Gardine bespannt. Darüber sah ich kurz die Augen, die Stirn und das Haar einer Frau, ein sehr helles, fast weißes Blond, glatt anliegend.
Es war nur ein flüchtiger Augenblick. Die Frau zog sich sofort wieder zurück. Und ich kannte Ella Godberg nicht. Sven war zwar ein paar Mal bei uns gewesen, aber abgeholt hatte sie ihn nie. Hanne hatte ihn heimgefahren, weil Alex sein Auto wohl ab dem späten Nachmittag selber brauchte. Fotos von Ella waren im Haus nicht verteilt gewesen, soweit ich mich erinnerte, hatte nicht einmal irgendwo eins von Sven gestanden.
Ich stieg aus und ging zur Tür, vielleicht nur, um den Eindruck abzuschütteln, der sich mir in der einen Sekunde aufgedrängt hatte. Maren hätte einen Blick über die Gardine geworfen. Blödsinn, was sollte sie in Godbergs Küche? Sie hockte mir wie ein bösartiger Gnom im Genick, zirkulierte im Blut, kreiste wie elektrischer Strom durch sämtliche Nervenbahnen. Da bekam man leicht Halluzinationen. Vielleicht war es nur eine Lichtspiegelung gewesen.
Nachdem ich dreimal auf den Klingelknopf gedrückt hatte, wurde mir endlich geöffnet, nicht von der Frau, wie ich gehofft hatte, um sie mir genauer anzusehen. Alex stand vor mir und machte einen sehr nervösen Eindruck. Kein guten Tag, keine Frage, was ich wolle. Er starrte mich nur an wie den Teufel. Als ich mich in privater Mission äußerte, atmete er erleichtert durch.
Aber anscheinend brachte ihn mein simples Anliegen in erhebliche Schwierigkeiten. Zuerst erklärte er: «Meine Frau ist nicht da.»
Als ich daraufhin keine Anstalten machte, Verzicht zu üben, sondern darauf hinwies, Olivers Buch läge wahrscheinlich im Zimmer seines Sohnes, meinte er zögernd: «Da müsste ich nachsehen.» Es klang nicht so, als täte er das gerne. Es vergingen noch etliche Sekunden, in denen er den Blick nicht von meinem Gesicht ließ. Er schien mit sich zu ringen, ob er noch etwas hinzufügen sollte, und sagte dann nur: «Es dauert einen Moment.»
Ehe ich mich versah, war die Haustür wieder zu. Ich drehte mich zum Auto um. Olli drückte sich die Nase an der Scheibe platt, um nur ja nichts zu verpassen. Er hatte sich tatsächlich gefürchtet. Aber wenn ich vor ihm stand, müsste er sich nicht ducken. Papa, der starke Mann. Und die böse Frau am Fenster, die zu Rex gesagt hatte, er solle die Kinder holen.
Irgendwo im Haus klang eine weinerliche Kinderstimme auf. Ich hörte sie trotz der geschlossenen Haustür. Sven war daheim. Und Ella musste ebenfalls da sein. Wen sonst hatte ich am Küchenfenster gesehen? Die Geliebte, die frech genug war, Ella zu fragen, warum sie zurückgekommen war? Hätte Ella ihren Sohn bei der Freundin ihres Mannes zurückgelassen? Aus meiner Vaterposition war das schwer vorstellbar. Bei einem verheirateten Paar sah die Sache wahrscheinlich anders aus. Eine hilflose Frau und ein selbstbewusster Mann, der in so einem Moment vielleicht sagte: «Wenn du gehen willst, geh, aber der Junge bleibt hier.»
Alex brauchte erheblich länger als einen Moment, um das Buch zu finden. Aber das musste noch nichts bedeuten. In einem Kinderzimmer dauerte es eben manchmal seine Zeit, einen bestimmten Gegenstand aufzuspüren, vor allem, wenn die ordnende Hand der Hausfrau fehlte. Nach etwa zehn Minuten wurde die Haustür wieder geöffnet. Alex lächelte mich an, das Land vor unserer Zeit hielt er fest, als könne er sich nicht davon trennen.
Weitere Kostenlose Bücher