Mit den Augen eines Kindes
Ich musste es ihm förmlich aus den Händen ziehen.
«Geht es Sven wieder besser?», fragte ich und fügte hinzu:
«Schönen Gruß von Hanne an Ihre Frau. Wann kommt sie denn aus Frankfurt zurück?»
Er schaute mich an, als hätte ich ihm seine Rechte vorgelesen und erklärt, dass sie in seinem Fall nicht zur Anwendung kämen. «Ich wusste gar nicht, dass Sie …», begann er, schaute an mir vorbei zum Wagen, hob die Hand und winkte Olli zu.
«Der Kleine hat mal was erzählt, aber ich dachte, Sie seien …»
Vermutlich hatte er angenommen, ich sei bei der Schutzpolizei. Nicht einmal das brachte er über die Lippen. Ich ertappte mich bei einem weiteren Blick zum Küchenfenster. Aus meiner Position vor der Tür war nur die Spanngardine zu sehen.
Ich zeigte mit einem Wink über die Schulter. «Hanne fragt sich schon die ganze Woche, was unser Herzbube bei Ihnen ausgefressen hat. Ihre Verteidigungsrede war nicht sehr überzeugend, und er will nicht so recht raus mit der Sprache, hat nur was von einer zerdepperten Vase erzählt. Was immer die gekostet hat, wir haben eine Haftpflicht, das wissen Sie doch.»
Alex senkte den Kopf, betrachtete die Keramikfliesen zu seinen Füßen. «Nicht der Rede wert. Er ist nur aus Versehen dagegen gestoßen. Es war das Hochzeitsgeschenk einer Tante. Ich konnte es nie ausstehen, aber meine Frau hing sehr daran. Sie hat sich ziemlich aufgeregt. Und mit ihrem Arm ist sie sich selbst eine Last. Da fließen die Tränen schneller. Aber dafür müssen Sie nicht Ihre Versicherung bemühen. Meine Frau bringt es fertig und kauft ein Duplikat.» Nun lachte er – sein jungenhaftes, unbekümmertes Lachen – und winkte Oliver noch einmal zu.
Als ich wieder ins Auto stieg, zeigte Olli zum gegenüberliegenden Haus des Ehepaars Kremer. Der Vorgarten war mit einem niedrigen Lattenzaun eingegrenzt. «Ich hab mich hinter dem Zaun versteckt», erklärte er. «Da konnte mich keiner sehen. Die böse Frau hat nämlich die Tür aufgemacht und geguckt, wo ich bin.»
Das auferlegte totale Schweigegebot hatte sich für ihn mit Alex’ freundschaftlichem Winken offenbar erledigt. Oder ich hatte ihm mit der Behauptung, der Rex sei erschossen worden, die größte Sorge abgenommen. Ich startete den Motor, fuhr an, in Gedanken noch bei dem flüchtigen Eindruck über der Spanngardine.
In Godbergs Einfahrt wollte ich wenden. Das zweiflügelige Holztor der Garage war im gleichen Stil gehalten wie die Haustür und klemmte ein wenig, wie ich später hörte. Man musste es schon mit Schwung zuwerfen, sonst rastete der Zapfen nicht im Schloss ein. Und dann schwang der eine Flügel ein Stück zurück. Er stand offen. Nicht völlig, aber ausreichend, um zu erkennen, was für ein Auto in der Garage stand. Plötzlich spürte ich ein unangenehmes Brennen in der Magengrube und eine widerliche Taubheit im Hirn. Ein neuer, silberfarbener Omega, wie Maren am Dienstag einen gefahren hatte. Vom Kennzeichen sah ich nichts, davon hatte ich am Dienstagabend ja auch nichts gesehen.
Als wir heimkamen, wartete Hanne bereits ungeduldig auf die Sauerkirschen. Der Teig war schon in die Backform gefüllt, Olli stürzte sich auf die Teigschüssel, um die Reste auszulecken. Ich erkundigte mich so beiläufig wie möglich nach Ellas äußerer Erscheinung. Hanne machte sich daran, den Kuchenteig zu belegen, und gab automatisch Auskunft. «Ungefähr meine Größe, nur viel zierlicher, eigentlich ist Ella zu dünn.»
«Welche Haarfarbe?»
«Dunkelblond, warum?»
«Ich meine, ich hätte eine Frau am Küchenfenster gesehen», erklärte ich. «Aber die war nicht dunkelblond.»
Ihre Hand mit den Kirschen verharrte mitten über der Backform, der rote Saft tropfte zwischen ihren Fingern durch auf den Teig. Ihr Gesicht spiegelte Triumph und Verachtung. «Das Schwein! Kaum ist Ella weg, quartiert er seine Freundin daheim ein. Und ich hab immer gedacht, er geht für Ella durchs Feuer. So kann man sich irren. Von Alex hätte ich das nicht gedacht.»
«Vielleicht war es eine Kundin», sagte ich, obwohl ich das nicht glaubte.
«Quatsch», meinte auch Hanne, verteilte die restlichen Kirschen und schob die Torte in den Backofen.
Ich schlich ins Wohnzimmer wie ein verlauster Hund, hin zum Telefon und wieder weg. Es juckte mich in den Fingern, bei Godberg anzurufen und Maren zu verlangen. Als Hanne auffiel, dass ich das Telefon hypnotisierte, verging der Drang wieder. Ich wollte mich nicht in etwas hineinsteigern, fühlte mich wie ein Idiot, der sich von einer
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