Mit den Augen eines Kindes
sorgfältig sein Müsli um. Dass kleine Kinder frühmorgens immer gleich so hellwach sein müssen. Mit skeptischer Miene hörte er sich an, dass er mir alles sagen musste, nicht lügen, nichts dazuerfinden und nichts weglassen durfte. Die letzte Forderung war vermutlich überflüssig, weggelassen hatte er bisher äußerst selten etwas. Wenn doch, dann nur die Wahrheit. Aber die hatte ich ja ausdrücklich mit der ersten Forderung verlangt.
«Und wenn der kleine Mann Tante Ella frisst?», gab er zu bedenken.
«Kleine Männer fressen keine Frauen», sagte ich. «Und wir können dafür sorgen, dass Tante Ella auch sonst nichts passiert.»
«Ganz bestimmt?»
«Ja», behauptete ich.
Er schob sich einen Löffel voll Müsli in den Mund und kaute bedächtig. Damit war er eine Weile beschäftigt. Dann erklärte er: «Aber der Papa von Sven hat gesagt …»
«Der Papa von Sven hatte Angst», unterbrach ich ihn «Und mit Angst helfen wir Tante Ella nicht. Wenn man aus Angst vor bösen Menschen den Mund hält, ist das immer falsch. Dann kann kein Polizist die bösen Menschen verhaften. Du warst doch schon so mutig, hast mir ein Bild von Rex gemalt und erzählt, dass du dich hinter dem Zaun versteckt hast. Da kannst du mir auch erzählen, was Rex und der kleine Mann gemacht haben.»
Das leuchtete ihm ein. Er nickte, sich der Tragweite seiner Aussage voll und ganz bewusst. Eine halbe Stunde später hatte ich ein relativ klares Bild gewonnen. Demnach waren am vergangenen Montagnachmittag ein großer Mann mit Bart, ein kleiner Mann in einer Lederjacke und eine böse Frau bei Godbergs aufgetaucht. Fremde Leute, Olli hatte sie nie zuvor gesehen. Es waren ganz bestimmt nicht die Rocker gewesen. Und Onkel Manfred könne nicht einer der beiden Männer gewesen sein, meinte er. Onkel Manfred war ja ein Prolet und durfte Tante Ella nicht besuchen. Dass Ellas Bruder uneingeladen und mit Verstärkung aufgetaucht sein könnte, konnte Olli sich nicht vorstellen.
Er hatte mit Sven im Garten gespielt. Das Arbeitszimmer von Alex lag wie das Wohnzimmer an der Rückseite des Hauses. Das Fenster war offen, davor gab es keine Gardinen. Man konnte problemlos in den Raum schauen, wenn man sich weiter hinten im Garten aufhielt.
Oliver und Sven hatten kein Klingeln an der Haustür gehört. Sie wurden durch die Stimme von Alex aufmerksam. Er protestierte lautstark gegen ein Ansinnen der Besucher. Der große Mann brachte ihn mit einem Faustschlag ins Gesicht zum Schweigen. Ella rannte mit einem Aufschrei aus dem Zimmer, kam ins Wohnzimmer und stieß dort eine Vase um, die zerbrach. Ella blutete aus ihrem wehen Arm, wie das passiert war, wusste Olli nicht. Wahrscheinlich versuchte Ella zu fliehen. Doch der kleine Mann war ihr dicht auf den Fersen, bekam sie bei der Terrassentür zu packen und setzte ihr ein Messer an den Hals.
Die Kinder bekamen Angst – auch wenn Olli steif und fest behauptete, er hätte keine gehabt. Sie zogen sich weiter in den Garten zurück. Hinter einer Gruppe junger Tannen gingen sie in Deckung und verhielten sich still. Ihr Blickfeld war jetzt beschränkt auf die Terrassentür.
Der große Mann, Alex und die böse Frau kamen ins Wohnzimmer. Der kleine Mann bohrte sein Messer in Ellas blutenden Arm. Sie schrie wieder. Alex sprach mit heftigen Gesten auf die beiden Männer ein. Was er sagte, war im Garten nicht zu verstehen. Die böse Frau trat ans Fenster neben der Terrassentür und schaute hinaus. Die Tannennadeln pieksten Sven in die Beine. Er kroch ein Stück aus seiner Deckung. Olli wollte ihn zurückziehen. Die böse Frau wurde aufmerksam, trat ins Freie und sagte: «Rex, da sind zwei Kinder im Garten, die holst du besser rein.»
Ob diese Aufforderung an den großen oder den kleinen Mann gerichtet war, blieb offen. Nach Ollis Überzeugung musste Rex der große sein – das größte Raubtier aller Zeiten. Und bevor einer der beiden Männer reagieren konnte, stürmte Alex ins Freie, hievte Oliver über den Zaun, trug ihm auf, schnell heimzulaufen und – um Gottes willen – zu schweigen, damit Rex nicht alle totmachte. Seinen Sohn klemmte Alex sich unter den Arm und ging mit ihm zurück ins Haus.
Nur dachte Olli nicht daran, heimzugehen, wo es gerade richtig spannend war. Er bezog Posten im Vorgarten der Kremers, hockte sich hinter den niedrigen Lattenzaun und spähte aufmerksam durch eine Lücke. So wurde er Zeuge, wie die böse Frau Godbergs Haustür öffnete, die Straße entlangschaute und die Tür wieder zumachte. Kurz darauf
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