Mit den Augen eines Kindes
Bordsteinschwalbe schief angesehen. Spät geboren, über alle Maßen verwöhnt, nie in die Schranken verwiesen worden.
«So ein Herzchen hab ich auch in die Welt gesetzt», seufzte er. «Sie hat ihren Mann verlassen, weil er zu viel arbeitete. Jetzt zieht sie ihm das letzte Hemd aus und treibt sich mit zwielichtigen Gestalten herum. Wenn ich was sage, heißt es nur, halt dich raus, Rudi. Papa, das hat sie sich so mit vierzehn abgewöhnt. Und ab einem gewissen Alter lassen die sich gar nichts mehr sagen, fühlen sich irgendwie zum Sumpf hingezogen. Gerade die, die eigentlich ein schönes Leben haben könnten. Kann man nicht nachvollziehen.»
Nach dieser Einleitung begann er, von seinem Privatleben zu erzählen. Patenter Schwiegersohn, der nun leider Gottes nicht mehr zur Familie gehörte. Ein Enkel, der die halbe Zeit in Opas Bett nächtigte, weil seine Mutter speziell nachts ihr Leben genießen wollte und der Kleine ständig Albträume hatte. Die missratene Tochter, der das Leben in geordneten Verhältnissen zu trist gewesen war. Und seine Frau hatte schon vor Jahren ihr Herz für Bedürftige entdeckt. Sie brachte es fertig, seine Hosen an Penner zu verschenken, vergaß aber, für ihn ein mageres Schnitzel zu besorgen. Dabei wusste sie, dass er wegen seiner Galle nichts Fettes vertrug.
Und zweimal im Monat erholte er sich von seinem häuslichen Elend, fuhr für ein Wochenende rauf in den Norden. Buchholz in der Nordheide, lag in der Nähe von Hamburg. Dort lebte Cora Rösch, die junge Frau, der er mit seinem Einsatz zur Freiheit verholfen hatte, da hatte sie allerdings noch Bender geheißen und war verheiratet gewesen. Nun war sie geschieden, trug wieder den Mädchennamen, hielt ihr Elternhaus in Schuss, arbeitete für ihren Lebensunterhalt und kämpfte um ein regelmäßiges Besuchsrecht für ihren kleinen Sohn, der beim Vater und einer Stiefmutter lebte.
Er wusste, was hinter seinem Rücken in der Dienststelle getratscht wurde. Und er genoss es, dass man ihm in seinem Alter noch so viel Anziehungskraft auf das weibliche Geschlecht unterstellte, ein junges Ding von nicht mal dreißig für sich zu gewinnen. Dabei spielte er für Cora Rösch nur den Vater, den sie dringend brauchte, und sie für ihn eine Tochter nach seinem Geschmack. So hatten sie beide einen Ersatz, und er bekam wenigstens zweimal im Monat ein mageres Stück Fleisch oder Fisch auf den Teller. Fisch aß er auch gerne.
«Man soll sich ja nicht persönlich engagieren», sagte er.
«Aber wenn so eine Sache abgeschlossen ist und man das Gefühl nicht loswird, man hätte einen großen Fehler gemacht … Ich wusste schließlich, dass sie suizidgefährdet war. Sie hatte es in der Landesklinik schon mal probiert, war ich nicht ganz schuldlos dran. Nach ihrer Entlassung hätte sie es beinahe geschafft. Ich konnte sie nicht so einfach sich selbst überlassen. Sie wollte ihre Strafe, ich hab verhindert, dass sie die bekam. Da kann man nicht sagen, was geht’s mich an.»
Ob er mit seiner Offenheit einen bestimmten Zweck verfolgte, mir vielleicht zu verstehen geben wollte, er befinde sich in einer Situation, die der meinen durchaus vergleichbar sei, er pflege auch Umgang mit einer Person, über die moralisch einwandfreie Gemüter wie Helga Beske die Nase rümpften, keine Ahnung.
Aber ich begann ebenfalls zu reden: über die Zeit in der Grundschule, die angefahrene Katze, den Zweig in Marens Hand und den Schlag in ihr Gesicht. Über die ungezählten Male im Gymnasium, wenn sie sich bei Brigitte Talber Unterstützung in sämtlichen Fächern holte, weil sie scheinbar die simpelsten Zusammenhänge nicht begriff. Zu dämlich, um sich zu merken, wie lange der Dreißigjährige Krieg gedauert hatte. Aber gut Flöte spielen konnte sie. Ich erwähnte auch die Schraube in einem Autoreifen und meine damalige Macht über sie. Ich musste doch nur den Zauberstab aus der Hose holen, dann verwandelte sich die bösartige Hexe in ein sanftmütiges Wesen. Aber jetzt funktionierte das wohl nicht mehr, sie hatte vermutlich in den letzten zwanzig Jahren eine Menge dazugelernt.
Um zehn nach neun, als keiner mehr damit rechnete, dass sich noch irgendetwas tun könnte, kam der Durchruf von Thomas Scholl: «Godberg kommt aus dem Haus. Er hat einen Aktenkoffer bei sich, öffnet die Garage.»
Rudolf Grovian atmete vernehmlich durch, offenbar hatte er sich doch ein paar Gedanken über einen Zusammenhang zwischen Helga Beskes Visite von Koskas Grundstück und Marens Absage gemacht. «Da
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