Mit den Augen eines Kindes
mach nicht gleich alle Pferde scheu, Konrad. Es
ist ja nicht sicher, ob da tatsächlich jemand war. Du kennst doch Oliver. Ihm hat es Spaß gemacht, als wichtiger Zeuge befragt zu werden, da hat er aber keinen kleinen Mann erwähnt. Das fiel ihm erst ein, als Frau Beske wieder weg war. Ich habe deiner Mutter schon gesagt, sie soll morgen die Augen offen halten.»
Dass erhöhte Wachsamkeit nötig wäre, hatte sie damit begründet, es treibe sich vielleicht ein Sittenstrolch beim Kindergarten herum. Sie musste an dem Mittwoch arbeiten, ging nicht anders, Esther war immer noch krank. Oliver war bereits bei meinen Eltern, weil Hanne um halb acht den ersten Patienten Blut abzapfen sollte. Und ich war ganz und gar nicht damit einverstanden, dass Olli in den nächsten Tagen einen Fuß auf die Straße setzte. Er musste bei Oma und Opa bleiben, sicherheitshalber.
«Deine Mutter wird sich freuen», meinte Hanne. «Jetzt komm ins Bett. Ich muss morgen früh raus.»
Das musste ich auch. Um sechs klingelte mein Wecker. Um sieben stand ich vor der Wohnung meiner Eltern. Große Überraschung, eisige mütterliche Miene, aber reinkommen durfte ich noch. Olli saß beim Frühstück und beteuerte, dass der kleine Mann tatsächlich beim Kindergarten gewesen sei. Er habe Tobias, den Jungen, der mit seinem Papa nur noch in den Zoo gehen und Eis essen durfte, mitgenommen.
«Vielleicht holen die jetzt alle Kinder», vermutete er mit blitzenden Augen, es sah verdächtig nach Sensationslust aus.
«Vielleicht war es der Vater von Tobias», sagte ich.
Olli schüttelte heftig den Kopf. «Nein, der darf nur sonntags kommen. Es war der kleine Mann. Ganz ehrlich, Papa, ich hab ihn genau gesehen, er hatte auch wieder die Jacke an. Die hat auf einem Arm ein silbernes Zeichen. Wie ein großer Vogel oder ein Flieger oder so. Und auf dem Rücken stand was geschrieben.»
Er gab sich lautstark Mühe, mir einen Eindruck von dem Schriftzug zu vermitteln. Seinen Namen konnte er schon schreiben, vielmehr malen. Aber Buchstaben in größerer Anzahl waren ihm noch ein Mysterium.
Mein Vater, vom Lärm in der Küche aus dem wohlverdienten Morgenschlaf des Rentners gerissen, erschien bei der Tür und wollte wissen, was der Krach sollte. Olli erklärte es ihm, ehe ich den Mund öffnen konnte. Es ging um den kleinen Mann, der Tante Ella mit einem Messer gestochen und im Nacken gepackt hatte, weil sie nicht in das weiße Auto steigen wollte. Aber als der kleine Mann ihr den wehen Arm auf den Rücken drehte und ihr wieder das Messer an den Hals hielt, stieg sie doch ein.
Plötzlich sprachen vier Personen gleichzeitig. Gute zehn Minuten später waren wir uns zumindest dahingehend einig, dass Olli den Tag besser mit dem Bausatz der Lagerhalle verbringen sollte, die Opa von Ludwig zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Die passte ja ohnehin nicht in die alpine Landschaft. Wenn sie schief zusammengeklebt wurde, konnte Opa sie reinen Gewissens in irgendeine Ecke stellen.
Mutter brachte mich lamentierend zur Tür. Sie hatte sich bereits erstochen auf der Straße liegen sehen, verstand nicht, wie Hanne sie bei so einer blutrünstigen Sache mit einem Sittenstrolch hatte belügen können, und schob in einer Abschlussrede alle Schuld in Marens Schuhe. «Wo soll das nur hinführen? Hab ich es dir nicht immer gesagt, Konrad? Es gibt ein Unglück, wenn dieses Weib in der Nähe ist.»
Auf dem Weg durchs Treppenhaus hörte ich sie noch jammern, ob sie es wohl wagen könnte, einen Salat fürs Mittagessen zu besorgen. Wenn diese Verbrecher da draußen auf der Lauer lagen, immerhin wusste das Weib ganz genau, wo meine Mutter zu finden war. Schuster, bleib bei deinem Leisten, dachte ich.
Mein Leisten ging mir manchmal gehörig auf die Nerven. Es waren gutmütige, biedere alte Leute, rechtschaffen und ehrlich bis auf die Knochen. Sie wären niemals auf die Idee gekommen, ein verletztes Tier zu quälen. Sie stocherten mit ihren Zweigen nur in anderen Wunden. Ich hatte Maren doch gar nicht erwähnt. Auch Oliver hatte mit keiner Silbe, mit keiner Geste angedeutet, dass der kleine Mann und sie etwas miteinander zu tun hatten. Aber meine Eltern brauchten keine Gesten oder Silben. Sie lebten seit mehr als zwanzig Jahren in der unumstößlichen Gewissheit, dass Maren für alle Schlechtigkeit dieser Welt verantwortlich zeichnete. Und wenn auf dem Ganges ein Ausflugsboot absoff, hatte sie es persönlich hinuntergezogen.
Vielleicht machte das ihren Reiz für mich aus. Mein ganz persönlicher
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