Mit der Linie 4 um die Welt
über jeden Verkehrsteilnehmer, der ihrem Bus im Weg steht. Die Leute im Bus schauen sich nicht an, und man wird auch nicht angesprochen. Nur manchmal schwatzt die Schaffnerin mit einer Bekannten, die ihre Einkäufe vorzeigt. Ein Fahrgast erzählt, dass er auch Schaffner ist, und es gibt einen Disput über die Schwierigkeit des Fahrkartenverkaufens angesichts des Hungerlohns, den man dafür bekommt, und über eingeschleppte Kakerlaken auf der Nachtbuslinie.
Die Straße ist nun achtspurig. Sie wird überspannt von fragilen Brücken aus Gittergeflecht, die heutzutage als Werbeträger genutzt werden. Den meisten, die von der einen auf die andere Straßenseite kommen wollen, ist der Auf- und Abstieg zu mühselig. Sie hüpfen wie Hasen im Zickzack über die Fahrbahnen, den Autos geschickt ausweichend.
In der Straße der Freiheit ziehen alle Bauepochen vorbei, stadtauswärts sind es neben schiefen Holzhäusern vor allem Bauten der Neuen Sachlichkeit, mit horizontal angeordneten Fensterbändern, Kleckerburgfassaden der Stalin-Zeit und Plattenbauten aus der Breschnew-Ära. Nr. 338 aus den neunziger Jahren sieht aus wie von Darth Vader in Schnapslaune errichtet. Die Balkone an den Häusern entlang der Chaussee der Freiheit sind bis in die oberen Etagen vergittert. In den Erdgeschosszonen wimmelt es von kleinen Cafés und Bäckereien sowie Latvijas Balzams, Läden, in denen Schnaps und Tabak verkauft werden. In den Lebensmittelgeschäften, die rund um die Uhr geöffnet sind, dürfen Kunden nach 22 Uhr kein alkoholisches Getränk mehr anrühren, geschweige denn kaufen.
Kurz vor der Endhaltestelle breitet sich rechts ein riesiges Einkaufszentrum aus – ALFA . Es könnte überall in Europa stehen, und auch drinnen gibt es kaum Produkte, die in Lettland hergestellt wurden. Die meisten Fahrgäste steigen hier aus. Nur ein Greis mit einem T-Shirt, auf dem »Minnesota« steht, steigt zu.
Eine Haltestelle weiter hält der nun fast leere Bus vor der lettisch-pädagogischen Sportakademie. Schon das Gebäude wirkt stramm, wie es da in der Landschaft steht. Dann kommt der Wald. Rechts und links der Straße der Freiheit gehen Sandwege ab. Nur das Schild eines nahe gelegenen Studiokinos weist darauf hin, dass ich mich noch in der Stadt befinde. Ich warte auf die nächste 4 zurück in die Stadt.
Die platinblonde Trolleybusfahrerin, die an der Endhaltestelle von ihrer Kanzel steigt, um in einem futuristisch anmutenden Pausenhäuschen einen Kaffee zu trinken, ist sehr jung und nicht größer als 1,60 Meter. Sie trägt ein kleines Schwarzes, der Saum zwei Handbreit über ihren nackten Knien. Bei dem Selbstbewusstsein, das sie ausstrahlt, möchte man ihr glauben, dass sie trotz ihrer zehn Zentimeter hohen Pfennigabsätze, auf denen sie über die Gehwegplatten tänzelt, ihren alten Trolleybus im Notfall abzubremsen vermag.
Unter vierstöckigen
Straßen
Schanghai, Volksrepublik China
I n Schanghai gibt es jedes Jahr einen neuen Stadtplan. Auf dem Deckblatt ist groß das Jahr verzeichnet. Jeder Stadtführer, so gut er auch recherchiert ist, ist schon nach wenigen Wochen gnadenlos veraltet. Wo gestern noch ein traditioneller Kleidermarkt war, steht heute eine Shopping Mall mit allen wichtigen Modefilialen der Welt. Wo gestern noch ein denkmalwürdiges Shikumen mit kleinteiligen Häusern und Gassen zum Flanieren einlud, überragt nun ein Wolkenkratzer das Viertel, von dem aber nur die ersten fünfzig Etagen zu sehen sind, der Rest ist in Smog gehüllt, der die Sonne in Schanghai nur selten durchkommen lässt. Abends glitzern die Fassaden der Hochhäuser auf der Pudonger Seite des Huangpu-Flusses, als wäre dort immer Vorweihnachtszeit, und Fähren und Ausflugsschiffe tragen Namen von Konzernen, wie bei uns Fußballstadien oder in David Foster Wallace’ Zukunftsroman Unendlicher Spaß die Jahre.
In den kleinen Seitenstraßen entlang der Sichuanstraße im Puxi genannten Stadtkern Schanghais sitzen die Menschen bis weit nach Mitternacht unter freiem Himmel auf Plastehockern und an improvisierten Tischen, ein Grill ist aufgebaut, Gemüse, Fleischbällchen und Hühnerspieße warten darauf, von Hungrigen ausgewählt und von Köchen gebraten zu werden. Es ist alles lebendig und von überschaubarer Größe, aber die ganze linke Straßenseite ist schon abgerissen, Dampframmen machen unablässig Krach, und man muss aufpassen, nicht von Betonmischern überfahren oder zufällig einbetoniert zu werden. Um Mitternacht wird das Straßenrestaurant samt
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