Mit der Linie 4 um die Welt
Gästen und Personal wie ein Spuk verschwinden. Wo in der Nacht noch der Grill gestanden hat, wird am Morgen nur ein Stück gewöhnlicher Asphalt mit ein paar Fettflecken sein, falls nicht auch die rechte Seite der Straße inzwischen schon abgerissen ist.
© Annett Gröschner
Auf der Hauptstraße bahnen sich die Busse und Trolleybusse ihren Weg zwischen den Autos, Lastenfahrrädern und Elektrorollern, die so leise und schnell sind, dass man sie fast immer zu spät bemerkt und sie ausweichen müssen, über Stock, Stein und Fußwege.
In Schanghai gibt es über tausend Buslinien. Das hört sich erst einmal gigantisch an, aber das System ist bei näherem Hinsehen doch sehr übersichtlich. Die 200er-Linien zum Beispiel fahren nur in der Rushhour, die 300er nur in der Nacht, die 400er überqueren den Fluss und die 600er verkehren nur in Pudong. Die Buslinien von 1 bis 200 sind die regulären Innenstadtlinien, von 1 bis 30 werden sie von Trolleybussen bedient. Dazu kommen seltsamerweise noch Linien mit einer Null vor der Ziffer, von 01 bis 09. Die Trolleybuslinie 4 existiert nicht, was ich schade finde, hat Schanghai doch das älteste Trolleybussystem der Welt; seit 1914 gibt es sie in der Stadt. Sie fahren durch die engen Straßen der Altstadt. Aber mit der 4 ist es in China so eine Sache, ist es doch eine Pechzahl wie bei uns die 13, mit der niemand etwas zu tun haben will, wohingegen es die Zahl 8 gar nicht genug geben kann. 88 Etagen hat das zweithöchste Gebäude Schanghais, das Jin Mao Hochhaus.
Trotzdem gibt es eine Buslinie 04, vielleicht neutralisiert die Null die Gefahr des Unglücks. Allerdings ist sie an den äußersten Rand des Innenstadtbezirks Zhabei verbannt. Die Touristenkarten, die nicht auf Chinesisch sind, enden im Norden an der Station Wenshui Road der Metrolinie 1. Dort soll die Buslinie 04 ihren südlichen Ausgangspunkt haben. Wo sie im Norden endet, bleibt unklar. Überhaupt finde ich die Linie nur, weil es Freaks gibt, die jede Bus- oder Straßenbahnlinie Chinas und speziell Schanghais ordentlich in Tabellen eingetragen und samt Haltestellennamen ins Netz gestellt haben. Wo sich die zugehörigen Straßen befinden und wie sie aussehen, bleibt ein Abenteuer, denn das Internet im Hotel ist zu langsam für eine Straßenrecherche.
Nun denn, auf ins Abenteuer Realität.
Die Metrostation People’s Square ist so groß wie ein mitteleuropäischer Flughafen. Auch die üblichen Röntgengeräte, durch die jede Tasche muss, gibt es hier. Große Tafeln weisen darauf hin, dass öffentliche Verkehrsmittel von Anschlägen bedroht sind und die Sicherheitsmaßnahmen daher gerechtfertigt. Auf den Tafeln gibt es neben Symbolen der in der U-Bahn verbotenen Substanzen und Gegenständen auch drei Fotos mit von Bomben zerstörten Fahrzeugen. Ich halte es auf den ersten Blick für Anschläge in Israel, aber die Rettungskräfte tragen Westen mit chinesischen Schriftzeichen. Eigentlich kommt es in China nur selten zu Bombenanschlägen und wenn, dann eher auf Busse und Gebäude als auf die U-Bahn. In den Bussen aber gibt es keine besonderen Sicherheitsmaßnahmen, die meisten haben noch nicht einmal eine Videoüberwachung.
Die Metro ist voll. Sieben Stationen sind es bis Wenshui Road. Es ist leise im Wagen. Die meisten dösen vor sich hin oder schlafen, manche auch im Stehen. Zeitung wird kaum gelesen. Ein Mann schüttelt seine Wasserflasche und schaut dann fasziniert die Kohlensäureperlen an. Immer und immer wieder. Es gibt ein Verbotsschild, das das Spucken auf die Erde verbietet. Der iPhone-Klingelton »Telefonklingel« hat sich auch in Schanghai durchgesetzt. Aber die meisten haben etwas anderes mit ihren Smartphones zu tun, als zu telefonieren. Gerne starren junge Paare gemeinsam auf das Display wie die beiden, die vor mir sitzen. Der Junge trägt eine Nerd-Brille, die keine Gläser hat. Das fällt mir nicht zum ersten Mal auf, offenbar sind hier gerade diese übergroßen Gestelle Mode. Als an der Haltestelle Shanghai Circus World zwei ältere Frauen einsteigen, steht nur das Mädchen auf und überlässt der Gebrechlicheren den Platz, der junge Nerd schaut nun allein auf sein Display. Er hat gar nicht bemerkt, dass jetzt eine steinalte Frau neben ihm sitzt. Über ihm läuft Werbefernsehen. Zu sehen ist in Endlosschleife ein Bett, das sich auf Knopfdruck selber macht, dicht gefolgt vom Spot über eine glückliche chinesische Frau, die mit Ariel wäscht. Nach fünf Haltestellen fährt die Metro aus dem Tunnel ans
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