Mit der Linie 4 um die Welt
Licht und wird Teil eines komplizierten Gewirrs von Hochstraßen und Schienenwegen. An der Wenshui Road trifft die U-Bahn auf die North-South Elevated Road und diese auf die Middle Ring Road, um sich zu einem gigantischen, vierstöckigen Verkehrskreuz zu verknäulen.
Als Kind hatte ich ein Buch, Die Welt von morgen, in dem es eine Zeichnung »An der Peripherie der Großstadt« gab mit mehrstöckigen Straßen für Pkw, Lkw und atombetriebene Eisenbahnen. Genauso sieht es hier aus, nur dass im Erdgeschoss ein kleiner Park ist, mit Gingkos, Efeu und zu Bäumen ausgewachsenen Birkenfeigen. Ich laufe über eine Fußgängerbrücke, die über den Baumwipfeln zu schweben scheint. Von unten kommt der Geruch von Wald, von oben der von Abgasen. Mehrere Lkw mit Containern von China Shipping verlassen laut scheppernd die Autobahn über mir. Dazwischen ist man selbst, klein und schwitzend unter der Mittagssonne.
Ein Schild mit der Aufschrift »Circle Gonghe Xin Road Transportation Hub« zeigt die Abfahrt der Linien 04 und 232 am Ende der Fußgängerbrücke an. Es gibt einen kleinen Busbahnhof mit sechs Bussteigen. Daneben ist eines der unzähligen Businesscenter Schanghais, mit Bürohochhaus, Parkhäusern und Dienstleistungsbereichen in der Erdgeschosszone. Dies hier heißt Fortune und steht fast leer. Nur ein Businessclub wartet auf Gäste. Die Reklameflächen werden von JCD ecaux vermietet, wie inzwischen fast überall auf der Welt.
Die 04 verkehrt laut Fahrplan von 6 bis 23.30 Uhr. Der Busfahrer kommt aus der Mittagspause zurück. Bei näherem Hinsehen ist es eine Frau. Ihr Fahrzeug hat mit offenen Türen in der Sonne gestanden. Es ist ein Volvo ohne Aircondition, an den Fenstern sind Gardinen angebracht, die vor der Sonne schützen sollen. Eine Schaffnerin gibt es nicht, neben der Fahrerin ist ein durchsichtiger Kasten, in den man beim Einsteigen 2 Yuan werfen muss und sich selbstständig einen Fahrschein abreißen kann, wenn man möchte. Die meisten haben aber elektronische Tickets, die gegen ein Touchpad gehalten werden. Unter den Mädchen ist es schick, die Einkaufstasche, in deren Inneren sich die Abonnementkarte befindet, gegen das Touchpad zu drücken, bis sie piept. Im Moment bin ich aber noch der einzige Fahrgast. Die Haltestellen werden in Chinesisch und Englisch angesagt und zusätzlich noch auf einem Display angezeigt.
Der Norden von Zhabei ist ein altes Industriegebiet, schon Ende des neunzehnten Jahrhunderts wurden die ersten Fabriken errichtet. Traditionell war hier die Aroma- und Reifenindustrie angesiedelt, später auch die übrige Fahrzeugindustrie. Gegenüber dem Busbahnhof ist ein Fabrikkomplex im Stil der Neuen Sachlichkeit der zwanziger Jahre.
Die Future-Urbanität im Rücken und der in die Jahre gekommene Industriekomplex vor mir erinnern mich an den alten Bauern mit Frau und erwachsener Tochter im Hochgeschwindigkeitszug nach Schanghai, der Verpflegung für zwei Wochen dabeihatte und mit seinen Fingern, die schwere Handarbeit gewohnt waren, Nummern aus einem alten Adressbuch in ein nagelneues Handy zu tippen versuchte. Und als es ihm gelungen war, die richtige Verbindung zu bekommen, so laut in das Handy schrie, als verständigte er sich mit einem Bauern auf dem benachbarten Feld. Der Zug fuhr indessen dreihundertzwanzig Stundenkilometer, fast geräuschlos und verlässlich wie die Funkverbindung auf der Strecke.
Bus 04 umrundet ein Industrieareal, das ich später im Internet als Shanghai Shibei Industrial New Zone identifiziere. Der Bezirk Zhabei macht auf seiner Internetseite auf Englisch Reklame für die Ansiedlung ausländischer Firmen in diesem von der Stadt entwickelten Gebiet. Man erwartet in der Zukunft hier Joint Venture zwischen wissenschaftlichen Instituten und der Produktion von High-Tech-Produkten. Im Moment lebt das Gebiet in drei Zeiten. Die Vergangenheit ist mit alten Fabriken der Fahrzeugherstellung und der Eisenbahn vertreten, die Zukunft ist ein hochmodernes pharmazeutisches Laboratorium, und die Gegenwart ist ganz bei sich – ein riesiges Einkaufszentrum, ein RT Mart der französischen Groupe Auchan, vor dem gerade nagelneue Elektroroller in einem improvisierten doppelstöckigen Lastwagen angeliefert werden. Hier füllt sich der Bus. Zum ersten Mal steigen mehr als zwei Leute ein. Danach biegt er wieder auf die North-South Elevated Route ein, beschirmt von den oberen Etagen, die auf riesigen Betonstelzen stehen. Plötzlich gerät auf der rechten Seite ein klassizistischer Palast
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