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Mit der Linie 4 um die Welt

Mit der Linie 4 um die Welt

Titel: Mit der Linie 4 um die Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
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in den Blick. Das von Industriebauten und Bürohochhäusern umgebene Gebäudeensemble wirkt wie die perfekte, aber fehlplatzierte Kulisse eines architektonischen Themenparks, eine Mischung aus aufgeblasenem Pariser Haussmann-Klassizismus und Sechzehntem-Arrondissement-Palais, selbst der Garten ist französischer Barock. Und sicherlich gibt es in der Belle Etage einen von Rousseau inspirierten »Salon zur Verbesserung der Sitten«. Allerdings ist der Bus zu schnell, das Haus entwischt, ehe ich mehr als »Building« gelesen habe. Google gibt an dieser Stelle das Haibo Building an. Haibo ist ein chinesischer Konzern, vielleicht mit besten Beziehungen zu Frankreich. Eine Haltestelle lang wechseln sich Industrie- mit Vergnügungspalästen ab, scheint alles ein wenig angestaubt, bis eine geräumte Fläche kommt, Gleisanlagen und ein Kanal und daneben ein nagelneuer Wolkenkratzer.
    An der nächsten Kreuzung lässt der Bus das Industrieareal hinter sich. Alles wird kleinteiliger, die Straßen schmaler, Jungen mit Rucksäcken fahren nebeneinander auf Fahrrädern, Motorroller umschwirren den Bus wie Insekten, ein Mann transportiert eine alte Singer-Nähmaschine auf einem noch älteren Fahrrad. Linker Hand ist die nächste Metro-Haltestelle, Pengpu Xincun. Der Bahnhof hängt wie ein Nest unter der Hochstraße, man gelangt über große, offene Treppen dort hinauf. Der Bus lässt die Stadtautobahn links liegen und fährt in eine schmale Wohnstraße, die Wenxi Road. Die Häuser sind früher erbaut, vermutlich in der Zeit nach der japanischen Besatzung. Es ist eher ein Arbeiterquartier als eines für den Mittelstand, aber auch hier sind die Wohnblöcke wie häufig in Peking oder Schanghai umzäunt. Es gibt ein Pförtnerhäuschen und ein Tor, das abends geschlossen wird und aus dem Areal eine Gated Community macht. An den Zäunen sind Schaukästen der örtlichen Wohngebietsleitung. In Pastellfarben gehalten, wird dort das schöne Leben in China gezeigt. Ebenso wird für die Luftstreitkräfte geworben. Die Plakate sind schon etwas gewellt. Hinter dem Zaun liegen Sperrmüll, alte Toiletten und Waschbecken. An den Südseiten der Wohnblöcke hängt Wäsche an ausladenden, ausgeklügelten Bambuskonstruktionen aus den Fenstern. Die Hemden flattern im Wind wie Vogelscheuchen. Ungewöhnlicher ist, dass entlang der Strecke der 04 die Bettwäsche auf zwischen den Bäumen gespannten Leinen hängt, direkt an der Straße. Man sitzt im Bus und fährt an Kissen-, Bettbezügen und Laken vorbei. Manchmal werden sie vom Wind gebläht und streifen das Fahrzeug. Auf jedem der Laken die Landkarte des Lebens.
    Ich bin schon seit Beginn der Fahrt die einzige Europäerin im Bus, von den anderen Fahrgästen etwas skeptisch von der Seite angesehen. Die Fahrerin beobachtet mich durch ihren Rückspiegel. Es gibt keinen Grund für Touristen, mit dem Bus kreuz und quer in einem Viertel herumzufahren, das nichts Touristisches hat. Alles ist Alltag. Es gibt unzählige Geschäfte, kleine Märkte, Poststationen, Schulen, ein Gesundheitszentrum und ein Jugendclubhaus, Restaurants mit roten Laternen und Änderungsschneidereien. Vor einer sitzt ein Kleinkind in einer riesigen Schüssel und spielt völlig selbstvergessen mit einer Rassel, während die Mutter im Inneren auf der Nähmaschine einen Vorhang säumt. Ein Blinder piekt mit seinem rot-weißen Stock im Versuch, den Fußweg gerade entlangzulaufen, das Kind fast an.
    Der Bus fährt zwei Haltestellen an einem Kanal entlang, die Häuser werden moderner, die Straßen lichter. Nach ein paar Kurven geraten wir wieder auf die Hauptstraße, der North-South Elevated Road, und der Bus muss sich in die richtige Spur einfädeln, um nicht auf einer der oberen Etagen der Hochstraße zu landen. Dabei wird er von einer Kolonne großer weißer Polizeiwagen abgedrängt, die wie futuristische Schützenpanzerwagen aussehen. Vor der Frontscheibe haben sie Gitter, die wie ein Visier heruntergeklappt werden können, wenn Gefahr im Verzug ist. Die Scheiben sind verspiegelt. Die Busfahrerin versucht, den Abstand zwischen sich und diesen Schattenwagen aus der Zukunft zu vergrößern. Die Fahrer tragen schwarze Uniformen, die an die in amerikanischen Motorradstreifen erinnern. Vielleicht ziehen sie ja im Vorbeifahren alle Informationen aus Handys, Computern und Köpfen und verarbeiten sie auf der Stelle. Einen Moment lang sieht es so aus, als wollte die Kolonne den Bus 04 in die Zange nehmen. Dann schert sie aber doch aus und nimmt die

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