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Mit der Linie 4 um die Welt

Mit der Linie 4 um die Welt

Titel: Mit der Linie 4 um die Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
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Auffahrt zur Ringstraße. In den Nischen unter den Auffahrten haben sich, wie überall auf der Welt, die Obdachlosen mit ihren Einkaufswagen eingenistet.
    Hinter der Ampel ist wieder der RT Mart vom Anfang der Fahrt zu sehen. Erst jetzt bemerke ich, dass der Bus im Kreis gefahren ist. Zwischen den Etagen der Hochstraße blitzt schon der Busbahnhof hervor. Einundzwanzig Stationen, keine halbe Stunde Fahrt. Es gibt keine Endhaltestelle, ist gibt nur immer wieder einen Ausgangspunkt.
    Ich steige aus. An der Haltestelle sitzt ein uralter Mann in einem weißen Hemd, einen vollen Reissack neben sich. Die anderen Wartenden halten Abstand. Bei näherem Hinsehen ist es ein ganz junger Mann, das Gesicht wettergegerbt, die Haut trocken, das Hemd zerfetzt. In dem Sack ist auch nicht Reis, sondern sind leere Flaschen, deren Pfand einzulösen wohl seinen Lebensunterhalt sichert. Oder auch nicht. Er ist zu erschöpft, um noch irgendetwas zu wollen. Also bleibt er einfach sitzen und schaut den Leuten mit leerem Blick beim Ein- und Aussteigen zu. Sie müssen den Motorrollern ausweichen, die sich überall reindrängeln. Manche Fahrer haben sich Handys zwischen Ohr und Schulter geklemmt und telefonieren bei voller Geschwindigkeit.
    Ich schaue mich auf dem Gelände des Supermarkts um. In der Halle stockt mir der Atem. Sie ist so groß, dass man am Eingang das andere Ende nicht sehen kann. Allein die Abteilung für Damenhygiene ist größer als eine ganze Filiale eines deutschen Drogeriemarkts und drei Mal höher. Wer an die oberen Regale herankommen soll, bleibt mir schleierhaft, wahrscheinlich ist es die Lagerfläche des Markts. Es gibt nichts, was es hier nicht gibt, und vieles unterscheidet sich bis auf die Schriftzeichen nicht von dem, was in europäischen oder US-amerikanischen Supermärkten angeboten wird. Selbst Fußballtrikots der niederländischen Mannschaft kann man hier kaufen. Besonders interessant aber ist die Abteilung Lebende Lebensmittel. Da schwimmen Fische in Aquarien, hüpfen Frösche und tummeln sich Schlangen in weitläufigen Terrarien. Man kann auf sie zeigen, und der Verkäufer tötet sie vor den Augen des Kunden.
    Wenn der Einkauf beendet ist, fahren die Leute ihre Einkäufe in riesigen Wagen in die Fast-Food-Restaurants, wo sie noch ein Menü essen, den Einkauf wie Kinderwagen dicht bei sich. An der Wand ist eine glückliche chinesische Familie zu sehen. Drei Generationen, die Großeltern in traditioneller Kleidung. Nur der Vater fehlt. Was auffällt, sind die zwei Kinder am Tisch. Eigentlich wäre nur eins erlaubt.
    Wenn die Kunden kein eigenes Auto haben, rollen sie die Wagen bis vor die supermarkteigenen Busse, wo die Einkäufe in den Gepäckfächern verstaut werden. Wenn der Bus voll ist, fährt er die Kunden weg. Wohin ist unklar, die Fahrtrichtung wird nur in Chinesisch angezeigt. Die Busse sind nummeriert. Eine 4 ist als Einzige nicht dabei.
    Auffällig viele fein gemachte Menschen laufen in die andere Richtung. Es ist ein älterer Teil des Supermarktkomplexes, der wahrscheinlich mal eine andere Funktion hatte. Über dem Eingang hängt eine verwitterte Leuchtreklame, chinesische Zeichen und darunter ein angedeutetes Paar bei einem Walzertanz. Sie erinnert an die Schrift über längst geschlossenen Restaurants in den Straßen der Schanghaier Innenstadt, an die abgeblätterten Jugendstilfassaden, hinter denen man die Reste legendärer Opiumhöhlen vermutet. Ich muss einem alten Paar auf einem Motorroller ausweichen, die Frau lenkt, fährt bis dicht an den Eingang. Sie trägt weiße Armstulpen mit Spitze, die sie beim Absteigen sehr graziös auszieht, zusammenfaltet und in ihre Handtasche steckt. Unter der Jacke lugt die Spitze eines Ballkleides hervor. Die Frau bockt das Moped auf und hakt ihren Mann unter, auch er ist fein gemacht und muss mit seinen Lackschuhen Pfützen ausweichen, von denen man nicht weiß, ob sie aus Wasser bestehen oder doch eher aus Altöl. Auf dem Weg zum Eingang grüßen sie zwei andere Paare. Ich schleiche ihnen nach. Drei Stufen hinunter. Roter Samt bis unter die Decke. Eine Bar. Die Paare formieren sich zu einer Polonaise und verschwinden hinter einer weiteren Tür. Einer schließt vor mir einen goldenen Vorhang.

Samstags ohne 4
    Szczecin, Polen
    S o könnte es sich zutragen: Eine Frau steigt in Berlin am S-Bahnhof Alexanderplatz in einen alten tschechischen Tatra-Zug der Straßenbahnlinie M4 Richtung Falkenberg und nimmt auf einem der blau-schwarz gemusterten Sitze Platz. Sie

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