Mit der Linie 4 um die Welt
schaut aus dem Fenster und sieht den Fernsehturm, die Plattenbauten an der Mollstraße, den Eingang zum Friedhof am Königstor, die aus dem Ei gepellten Gründerzeithäuser auf der Greifswalder Straße. An der Haltestelle Danziger Ecke Greifswalder Straße schläft sie ein. Eine Haltestelle später nimmt ein hilfsbereiter Mensch die Schläferin an die Hand, führt sie über die Treppen des S-Bahnhofs Greifswalder Straße zur Ringbahn, wo sie gegen den Uhrzeigersinn bis Gesundbrunnen fährt und dort in den Regionalexpress Richtung Stralsund steigt. Eineinhalb Stunden später, die Schläferin ist kurz in Angermünde umgestiegen, geleitet der freundliche Mensch sie über die Gleisüberführung des Szczecin Główny und die leicht ansteigende Straße zur Straßenbahnhaltestelle der Linie 4 am Zawiszyplatz gleich hinter den alten preußischen Kasernen hinauf. Eine Minute später wacht die Frau auf ihrem blau-schwarz gemusterten Sitz auf und wähnt sich immer noch in Berlin, denn die Bahn fährt durch Straßen mit Häusern aus der Gründerzeit. Dass die Häuser eine Etage niedriger sind als in Berlin, kann sie nicht sehen, ohne ihren Körper in Richtung Himmel zu verbiegen. Im Innenraum der Straßenbahn ist alles wie immer, die Sitze, die Haltestangen, die üblichen Hinweis- und Verbotsschilder in deutscher Sprache. Nur die Fahrkartenentwerter sind anders. Da die Frau sich im Besitz einer Monatskarte wähnt, denkt sie darüber nicht weiter nach. Auch dass der Straßenbahn der Beiwagen fehlt, nimmt sie nicht zur Kenntnis, ihr Sitz zeigt in Richtung Fahrerkabine. Es sind die gleichen Bahnen, übernommen aus dem Berliner Fuhrpark, der tschechischen Marke Tatra T6A2D, die heute noch als M4 die Greifswalder Straße in Berlin hinunterfahren. Die, deren Motor, wenn die Bahn an Fahrt gewinnt, immer singt. Der einzige Unterschied ist, dass die Straßenbahn in Szczecin wegen der ausgefahrenen Gleise stärker schaukelt.
© Annett Gröschner
Erst wenn die Bahn am Brama Portowa, einst Berliner Tor, auf ein Haus mit riesigen Werbebannern in einer fremden Sprache trifft, wird der Frau das alles etwas spanisch vorkommen – oder polnisch. Sie ist in Szczecin, das, als es noch Stettin hieß, ein Vorgarten von Berlin war. Früher sagte man, dass alle Berliner in Stettin, Breslau, Königsberg oder Magdeburg geboren worden seien, ungefähr in dieser Reihenfolge. Irgendwie ist es ja heute noch so. Nur dass nun auch Stuttgarter und Kölner nach Berlin kommen. Heute ziehen die Szczeciner, wenn nicht nach Berlin oder London, in die wenige Kilometer entfernten deutschen Dörfer hinter der Grenze und machen aus der verschlafenen Uckermark ein Stück Europa. Die Grenzverschiebungen der Nachkriegszeit, die Stettin eine polnische Randlage bescherten, verlieren an Bedeutung. Es gibt einen Autobahnanschluss in die Welt, und für 10 Euro kann man mit der Deutschen Bahn nach Berlin reisen.
Zwei der größten Berliner, nein, mehr noch Berliner an sich, sind in Stettin geboren und aufgewachsen: Alfred Döblin, geboren 1878, und Franz Hessel, geboren 1880. Keiner, der ihre Texte über Berlin liest, die flanierenden und die belletristischen, würde je auf den Gedanken kommen, ihre Wurzeln wären anderswo gewesen als auf dem Alexanderplatz oder dem Kurfürstendamm. Als hätten sie je etwas anderes gesehen als Berliner Asphalt und den Tiergarten. Aber Hessel wie Döblin sind erst als Kinder nach Berlin gezogen, Hessel 1888, sein Vater wechselte als Bankier nach Berlin, bei Döblin war es, im selben Jahr, ein Abstieg. In Berlin waren die Döblins etwas weniger der Schmach ausgesetzt, eine vom Vater verlassene Familie zu sein. Die beiden haben deshalb unterschiedliche Erinnerungen an ihre Geburtsstadt. Hessel beschreibt seine Kindheit im Kramladen des Glücks eher melancholisch, in einem frühen Gedicht heißt es: »wie fremd ist seine Kindergasse ihm.« Döblin war da ungnädiger: »Stettin, eine trübe, verkommene Provinzstadt nach seiner Erinnerung, mit einem grellen Jahrmarkt auf dem Paradeplatz, Spielplätzen auf den Treppenabsätzen eines tief herabsteigenden Rathauses.«
Stettin war gar nicht so provinziell, sondern eine bedeutende Hafenstadt Preußens, Warenumschlagplatz und Hauptstadt Pommerns. 1900 hatte die Stadt eine Einwohnerzahl von zweihunderttausend, die sich bis in die dreißiger Jahre mehr als verdoppelte. In der Kindheit der Dichter kreuzte eine Pferdebahn ihre Wege, bei Alfred Döblin in der Bollwerk 37, einer Straße an der Oder, bei
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