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Mit der Linie 4 um die Welt

Mit der Linie 4 um die Welt

Titel: Mit der Linie 4 um die Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
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renoviert und unrenoviert. Der Busfahrer sagt die Haltestellen nicht mehr an. Seine Stimme hat sich schon in den Sabbat verabschiedet.
    Auf dem Carmel Market geht der Markttag zu Ende. Ich steige aus. Es gibt viele Stände mit Kunsthandwerk, aber auch Lebensmittel. Die meisten sind schon dabei, einzuräumen. »Finished for the day«, sagt der Straßenverkäufer, als ich ihn frage, ob er mir noch einen Orangensaft verkaufe. An dem Platz zur Allenby-Straße spielt eine ältere Frau Gitarre. Sie singt etwas Melancholisches. Um sie herum sitzen Leute auf der Straße und hören ihr zu. Ich kann den Text nicht verstehen, aber irgendetwas rührt mich an dem Lied und an der Frau, die eine müde Schönheit ist und sich fein gemacht hat für den Auftritt. Ihre Armreifen klappern, wenn sie zwischendurch den Takt auf dem Holz der Gitarre schlägt. In den Seitenstraßen, durch die sich der Markt zieht, gibt es viele kleine Cafés und Kneipen, die mich an die frühen neunziger Jahre in Berlin erinnern. Unrenovierte Räume, in die ein paar junge Leute einen roh gezimmerten oder aus Bierkästen gestapelten Tresen gestellt haben und Flaschenbier, Cola und jeweils eine Sorte Weiß- und Rotwein verkaufen. Am frühen Abend ist noch nicht viel los, erst in der Nacht wird das Viertel aufwachen, Sabbat hin oder her. Ich laufe zurück zur Bushaltestelle. An den Ecken zur Allenby sind zwei Kaufhäuser im Stil der Neuen Sachlichkeit. Beide stehen leer, an einem fehlen schon die Fenster. 17.30 Uhr nehme ich den letzten Bus, der in Richtung Zentraler Busbahnhof fährt. Beim nächsten Stopp steigt eine junge Soldatin ein, die ein Gewehr bei sich trägt. Sie setzt sich neben mich. Die Waffe drückt mir in die Hüften. Die Soldatin fährt wie ich bis zur Endhaltestelle und geht zum Eingang des Busbahnhofs. Ich folge ihr. Uniformierte mit Maschinenpistolen kontrollieren die Taschen. Manche Leute werden herausgewunken und gründlich durchsucht. Meine Tasche wird nur flüchtig durchgesehen, wahrscheinlich passe ich nicht ins Schema, zu hellhäutig, zu alt. Solange ich mich erinnern kann, gibt es den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern, und wie ich zwischen Ost und West gefangen bin, stehe ich auch zwischen Israelis und Palästinensern, sitze auf der Mauer und bin ratlos, weil es einfache Lösungen nicht gibt. Der Busbahnhof ist grausam, außen wie innen. Ein Labyrinth aus Beton. So stellt man sich das Innere einer Handgranate vor. Er ist dunkel und so schlecht ausgeschildert, dass ich einen Moment lang glaube, nie mehr herauszufinden. Dann habe ich endlich auf einer der oberen Etagen den Busbahnsteig der Linie 4 gefunden. Aber der Verkehr zurück in die Stadt ist, wie erwartet, eingestellt. Ich bin froh, als ich wieder unter der Hochstraße stehe. Der Ton der Leute ist hier ruppig, man rempelt sich an, stellt sich anderen in den Weg, schimpft laut.
    Das Leben in Tel Aviv im Frühsommer 2012 wirkt, vom Strand aus gesehen, tolerant, entspannt, weltoffen und modern. Aber je näher man dem Zentralen Busbahnhof kommt, desto mehr empfindet man die Zerrissenheit der Stadt, die wohl auch die des Landes ist. Im vergangenen Jahr gingen die Bilder der jungen Leute um die Welt, die für bezahlbaren Wohnraum demonstrierten, indem sie auf dem Mittelstreifen des von Bauhausgebäuden gesäumten Rothschild-Boulevards, an dem auch die 4 auf dem Weg zum Zentralen Busbahnhof vorbeifährt, zelteten. Zeitweise hatte die Zeltstadt eine Länge von eineinhalb Kilometern. Über viele Wochen hinweg gab es Demonstrationen und Streiks im ganzen Land. Was als kleines Camp angefangen hatte, wurde zur größten Protestbewegung seit Jahrzehnten gegen soziale Ungleichheit, den Abbau der Sozialleistungen und für eine Senkung der Lebenshaltungskosten. Die Regierung Netanjahu gab ein paar halbherzige Versprechungen, an den Wohnungsproblemen etwas zu ändern. Die Zeltstadt wurde zum Winter hin geräumt, die Probleme sind geblieben, jeder Versuch einer neuen Besetzung wird von Sicherheitskräften unterbunden. Fragt man Aktivisten des Protests, so sind sie ernüchtert. Sie hätten nichts erreicht, im Gegenteil, alles sei noch schlimmer geworden, man wisse nicht, wie es weitergehen werde.
    Ich laufe ein Stück Richtung Stadtzentrum, vorbei am Levinsky-Park. Auf der Wiese liegen, hocken oder stehen dunkelhäutige Menschen, ein paar Jüngere spielen Fußball. Ihre Zahl geht in die Hunderte. Sie sehen vollkommen apathisch aus. Anders als in Städten wie Paris, wo man von Afrikanern

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