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Mit der Linie 4 um die Welt

Mit der Linie 4 um die Welt

Titel: Mit der Linie 4 um die Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
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Hallesches Tor, Heilig-Kreuz-Kirche. Alles ist hier BlücherGneisenauGroßbeerenWaterlooBelle-Alliance, Zossen und Jüterbog, die ganze preußische Erfolgsgeschichte runter und hoch bis fast zum Kreuzberg, nur dass keine Soldaten mehr in den Kasernen sind und im Bus kein einziger Preuße, sondern Türken, Araber, Russen, Sudanesen mit Kindern und Kindeskindern. Am Urban-Krankenhaus steigt eine türkische Familie ein, allerdings nur Frauen, von der Urgroßmutter bis zum Säugling. Früher, in den zwanziger Jahren, werden in der 4 sicherlich viele Krankenschwestern mitgefahren sein und am Urban ausgestiegen. Soldaten nicht, es war nicht die Zeit der Soldaten. Die kam erst zehn Jahre später wieder und richtete den ganzen Schlamassel an, der uns heute noch beschäftigt und der einen Teil des Wagenparks der Straßenbahn vollkommen zerstörte.
    Kilometer 22 bis 26,1: Hermannplatz bis U-Bahnhof Warschauer Straße
    An der Haltestelle Hermannstraße sehe ich die Dichterin Brigitte Struzyk, wie sie auf den Bus wartet. Vor dreißig Jahren hat sie die Geschichten der Leute erzählt, die in den Hinterhäusern des Prenzlauer Bergs in einer Zeitkapsel lebten und am Morgen mit der Straßenbahn zur Schicht fuhren, weil ihnen nichts anderes übrig blieb. Jetzt hat sie noch einmal neu angefangen, in Neukölln. Und einen Roman geschrieben, in dem die Heldin oft in der Straßenbahn sitzt, weniger aus Leidenschaft denn aus Notwendigkeit. »Hier, vor den Typen-Bauten der Mollstraße, die den Alex vor der Nase haben und denen der Prenzlauer Berg uber den Kopf wächst, hier wollen sie immer schnell weiter. Wie die Mutter ihren Hals reckt nach der Straßenbahn! Ihren Giraffenhals!« Wie Brigitte Struzyk gerade ihren Hals reckt am Hermannplatz nach dem Bus, es ist der M29er mit der blonden Fahrerin, da steigt sie auch schon ein. Man könnte sich Brigitte ebenfalls gut in der Ost-West-Ringlinie 4 vorstellen. Vielleicht sogar als Schaffnerin, mit demselben Tuch im Haar, das verhindert, dass ihr die Haare in die Augen fallen und sie das Kleingeld, das der junge Mann ihr in die Hand drückt, nicht mehr zählen kann. Eine Haltestelle weiter biegt der M29er in die Pannier ein, während die 4 damals eine Straße vorher in die Reuterstraße fuhr. Der M41 fährt weiter nach Treptow. Mit mir steigt ein uralter Mann aus, der einen Verstärker hinter sich herzieht, aus dem eine leierige Hare-Krishna-Melodie kommt. Damit wird er die jungen Leute missionieren, die vor den Cafés sitzen, vor denen mit den 99-Cent-Gerichten und denen, die Kreuzberg oder Friedrichshain nachmachen und immer die gleichen Kaffeespezialitäten anbieten. Die Gegend hat sich noch nicht entschieden, ob sie schick werden will. Im Moment verdrängen die Prekären die Armen. Aber wenn ein Café aufmacht, das Fräulein Frost heißt und davor Leute stehen, die von ihren PROJEKTEN erzählen, dann lohnt es sich nicht mehr hierherzuziehen, weil das Murmeltier täglich grüßen wird.
    Ich mache Pause. Bei Johanna, die hinter dem Reuterplatz den kleinsten Garten in der kleinsten Kleingartenanlage Berlins gepachtet hat. Die Parzelle ist winzig, bei Johannas Geburtstagen ist es so voll, dass die Kinder auf die Bäume ausweichen müssen. Dort bleiben sie so lange sitzen, bis einige der Gäste gehen.
    Am Reuterplatz sieht man die Spuren der Schienen wie an der Grenzstraße; keine Mühe hat man sich gemacht, um sie zu verwischen, ein leichter Knick an der Friedelstraße, da muss immer Stau gewesen sein, und da ist sie ja schon, die 4. Sie bimmelt am Knick, wo manchmal ein Radfahrer angeschossen kommt, der die Vorfahrt nicht beachtet. Sie trägt den Werbespruch »Dornkaat aus Kornsaat«. Und die Fahrgäste ähneln denen im Wedding. Die Bahn bimmelt sich über die Brücke des Landwehrkanals, vorbei an der Ohlauer und rechts in die Wiener, am Görlitzer Bahnhof entlang bis zum Görlitzer Ufer. Da ist es nur noch die 4, nicht die 2, die fuhr bis Spreewaldplatz, die gleiche Richtung wie heute der M29. Die 4 ist so langsam, dass man neben ihr herlaufen kann. Am Ende der Wiener stehen noch Häuser, die allesamt den Zweiten Weltkrieg nicht überleben werden. Die Grundstücke übernimmt die Stadt gegen Beräumung der Trümmer. Die Bahn wird jetzt schneller, links in die Tabor, die Wrangel, die Falckenstein, wo sie plötzlich verschwindet mitsamt den Schaffnern, den Fahrern, den Fahrgästen.
    Durch die Falckensteinstraße passt keine Straßenbahn mehr, die unzähligen Kneipen haben ihre Tische bis an den

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