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Mit der Linie 4 um die Welt

Mit der Linie 4 um die Welt

Titel: Mit der Linie 4 um die Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
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Berliner, die ihre Stadtwohnungen kaum einen Kilometer entfernt in der Dorotheen- oder Friedrichstadt hatten. Nahezu alle Berliner wünschen sich einen privaten Platz im Grünen, ob es nun eine »Laubenlandparzelle« (Erich Weinert) auf einer Vorhaltefläche oder eine Sommervilla im Tiergarten ist. Nach der Jahrhundertwende bauten sich Millionäre eher ein Haus im Grunewald und in die Tiergartenvillen zogen Botschaften.
    Am Lützowplatz steige ich aus. Von der Eleganz des neunzehnten Jahrhunderts ist hier nichts mehr geblieben.
    Kilometer 15,5 bis 18: Magdeburger Platz bis Anhalter Bahnhof
    Das sechste Berlin liegt im Dornröschenschlaf. Walter Benjamin, der seine Kindheit Ende des neunzehnten Jahrhunderts im Tiergartenviertel jenseits des Landwehrkanals verbrachte, ja, am Magdeburger Platz sogar geboren wurde, hat in seinen Miniaturen Berliner Kindheit um neunzehnhundert das Viertel mit der Fantasie eines Kindes beschrieben: »In meiner Kindheit war ich ein Gefangener des alten und des neuen Westens.« Heute ist davon nichts mehr geblieben. Das Viertel wurde in weiten Teilen zerstört, auch die Markthalle am Magdeburger Platz, die nicht wieder aufgebaut wurde und der Benjamin einen Text gewidmet hat, nein, eigentlich den Marktfrauen, die für den Jungen in ihrer Fülle etwas Erotisches ausstrahlten: »Hinter Drahtverschlägen, jeder behaftet mit einer Nummer, thronten die schwer beweglichen Weiber, Priesterinnern der käuflichen Ceres, Marktweiber aller Feld- und Baumfrüchte, aller essbaren Vögel, Fische und Säuger, Kupplerinnen, unantastbare strickwollene Kolosse, welche von Stand zu Stand miteinander, sei es mit einem Blitzen der großen Knöpfe, sei es mit einem Klatschen auf ihre Schürze, sei es mit einem busenschwellenden Seufzen, verkehrten.« Und abends fuhren sie mit der Straßenbahn in ihre engen Behausungen zurück.
    Hätte Benjamin den Nationalsozialismus überlebt, er hätte das Viertel, in dem er aufgewachsen ist, nach dem Krieg nicht mehr wiedererkannt. Der Magdeburger Platz war danach wie Magdeburg, ein Trümmerhaufen. In den folgenden Jahrzehnten scheint wenig Veränderungswille geherrscht zu haben. Und auch in den vergangenen zwei Jahrzehnten hat sich dieses Viertel jeder Aufwertung entzogen. Es gibt hier immer noch Bombenlücken, die enttrümmerten Flächen sind blockweise von Möbelhäusern besetzt, die in anderen Innenstadtgegenden längst aufgegeben haben und an den Stadtrand gezogen sind. Auf dem Gelände der Markthalle ist ein Kinderspielplatz. Vielleicht erinnert sich ja später eines der Kinder an seine Kindheit um zweitausendzehn . Nur die Villa des Café Einstein hat eine gewisse extrovertierte großbürgerliche Eleganz, mit der sie aber ziemlich allein in der Kurfürstenstraße steht. Nimmt man statt des Busses M29, der am Landwehrkanal entlangkommt und das Viertel um den Magdeburger Platz südlich liegen lässt, das Fahrrad und fährt, wie die 4 vor neunzig Jahren, die Lützowstraße, über die Potsdamer Straße hinweg bis zum Ende, dann scheint es, als bewege man sich in einer Zeitmaschine rückwärts, bis an der Lützowstraße Ecke Flottwellstraße alles verwunschen und das Bild Ende der vierziger Jahre eingefroren ist. In sechzig Jahren sind nur ein bisschen Unkrautgrün und ein paar wilde Bäume dazugekommen. Es würde mich nicht wundern, böge im nächsten Moment eine Straßenbahn um die Ecke, ein vierachsiger Maximumwagen mit geschlossenen Plattformen und der Werbung »Durch Kaliklora weiße Zähne!«.
    Aber sie kommt nicht. Es regnet. Ich lasse das Fahrrad stehen und nehme den M29, der, über den Landwehrkanal fahrend, die Spitze am Potsdamer Platz nicht mitnimmt wie früher die 4, sondern gleich die Schöneberger Straße bis zum Anhalter Bahnhof durchprescht. Mitte der zwanziger Jahre war am Hafenplatz noch ein Hafen mit Wasser. Und die 4, die Hafen mit Hafen verband. Der Busfahrer ist eine Frau mit aschblondem Haar, nicht mehr jung, mit einer dunklen Raucherstimme. »Bis um einse muss ick«, sagt sie zu dem Fahrer, den sie ablöst und der mit mir am Anhalter Bahnhof aussteigt.
    Kilometer 18 bis 22: Anhalter Bahnhof bis Hermannplatz
    Durch das zerstörte Tor des ehemaligen Anhalter Bahnhofs kann man die Kinder auf dem Bolzplatz sehen, der statt der Gleise hier ist. Rechts oben auf dem Rumpftor sitzt eine Figur ohne Kopf.
    Ich steige in den M41er um, der bis Sonnenallee exakt die Strecke der Linie 4 abfährt. Und das geht Zackzackzack: Hebbel am Ufer, Willy-Brandt-Haus,

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