Mit der Linie 4 um die Welt
all seine Hoffnung nach dem Zweiten Weltkrieg zusammengenommen und Licht und Luft und Grün in die Wohnungen geholt, dabei aber vergessen, dass der Weg von der Straßenbahn ins Hochhaus durch einen schlecht beleuchteten Park führt. Jeder, der hier wohnt, hat eine Musterwohnung, aber die Konfektionierung sah ganz anders aus, so wie die Gropiusstadt oder das Märkische Viertel, wo die Weddinger nach der Kahlschlagsanierung hinkamen. Hier ist für immer und ewig Interbau, die große Bauausstellung der Nachkriegszeit, der Traum der Moderne, die Charta von soundso, das Manifest von dem und dem, und nichts darf verändert werden. Die ganze Moderne ist aufregend, aber ein bisschen angestaubt wie das Café Tiergarten in einem der Hochhäuser der Altonaer Straße, dessen Attraktion jede Menge alte Kaffeekannen in Regalen sind.
Die Moderne altert nicht schön, anders als die drei Greisinnen im Café da am Fenster zum Park, die den Kaffee coffeinfrei trinken. Wahrscheinlich sind sie allesamt Erstbezug, die Männer vor Jahren gestorben und die Kinder in alle Welt verstreut. Dass im Hansaviertel dreißig Prozent Ausländer wohnen, sieht man nicht, wenn man die Altonaer Straße entlangwandert. Man fühlt sich hier weniger in der Gegenwart denn mehr in den sechziger Jahren. Und zu den Häusern passt auch eher eine Straßenbahn der Linie 2, sagen wir aus dem Jahre 1960. Die U-Bahn ist noch nicht fertig. Man fährt mit den modernsten Wagen. Die Frauen (sind es die aus dem Café?) tragen Etuikleider mit kurzen Bolerojäckchen und haben Handschuhe dabei, die sie aber nicht übergestreift haben, sondern nur in der Hand halten. Die Handtasche haben sie über den linken Unterarm gehängt. Die Schuhe sind Pumps mit Pfennigabsätzen. Eine trägt alles in Schwarz und Gelb wie früher die Schilder der 4, aber die gibt es ja nicht mehr. Ich stelle mir also diese Frau mit einem flotten Kurzhaarschnitt vor, die nach dem Aussteigen aus der 2 ins Café Tiergarten geht, um ein Stück Kuchen zu essen. Quark, nicht Schwarzwälder Kirsch, wegen der Linie. Und die jetzt immer noch da sitzt und immer noch Quarktorte isst, das Haar jetzt fusselig und grau, aber immer noch Kurzhaarschnitt.
Wer saß Mitte der zwanziger Jahre zwischen Hansaplatz und Lützowplatz in der Straßenbahn 4? Wahrscheinlich nicht die Arbeiter aus dem Wedding oder Moabit. Oder doch? Vielleicht am Wochenende, wenn sie mit Kind und Kegel einen Ausflug in den Tiergarten machten? Oder mussten sie laufen, weil die Fahrkarten das Haushaltsbudget gesprengt hätten? Ich stelle mir eher Damen im Sonntagsstaat vor, die auf den zweiten Blick nicht so vornehm sind, wie sie sich geben. 1905 heißt es in dem Buch Berlin und die Berliner über den Tiergarten: »Stark gelichtet, aber wundervoll gepflegt; der größte und beliebteste Garten der Stadt. Eingeengt durch Denkmäler, Straßenbahnen, Automobile, Reiter, Kinder und Kinderfräuleins.« Die Ost-West-Ringlinie kann mit den Straßenbahnen nicht gemeint sein. Es gab sie 1905 noch nicht.
Der Bus fährt um die Siegessäule, die, als die 4 in den zwanziger Jahren durch den Tiergarten in Richtung Lützowplatz fuhr, noch vor dem Reichstag stand. Im Zuge von Albert Speers Planungen zur Umgestaltung der deutschen Hauptstadt zur Welthauptstadt Germania wurde sie, um ein Sockelgeschoss erhöht, 1939 auf den Großen Stern versetzt, der auf einen Durchmesser von zweihundert Metern vergrößert wurde. Ein Fakt, der heute vor allem Fahrschüler beschäftigt, die zur Probe ein Mal um den Großen Stern fahren und rechtzeitig die Spur wechseln müssen. Eigentlich war das auch alles, was von den größenwahnsinnigen Plänen geblieben ist: eine Siegessäule, die zum Symbol der Berliner Schwulenbewegung geworden ist. Eine schöne Volte der Geschichte. Der Bus biegt in die Hofjägerallee wie dazumal auch die 4. Rechts und links befindet sich immer noch der Tiergarten, der nach dem Englischen Garten in München zweitgrößte innerstädtische Park. Als die 4 als 2 nach dem Krieg hier wieder entlangfuhr, gab es keinen einzigen Baum mehr im Tiergarten, sie waren alle verheizt worden. Das Gelände war jahrelang Gemüsegarten, die Wiederaufforstung zog sich über zehn Jahre hin. Auch das Botschaftsviertel, das sich links hinter dem Tiergarten anschließt, lag in Trümmern. Noch in den neunziger Jahren gab es hier halb zerstörte und in ihrer Verletzung verwunschene Villen, in denen Besetzer wohnten oder die leer standen. Einst waren sie Sommervillen reicher
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