Mit der Linie 4 um die Welt
äußersten Rand des Gehwegs der verkehrsberuhigten Straße gestellt. Junge Touristen aus aller Welt lärmen, ein babylonisches Gemisch. Zur Spree hin nimmt die Dichte der Clubs zu. Einige waren früher im Prenzlauer Berg, wo sie erfolgreich vertrieben wurden. Jetzt könnte ich vom Schlesischen Tor eine Haltestelle mit der U1 bis zur Endhaltestelle Warschauer Straße fahren, um den Ring vollzumachen und das siebte Berlin zu verlassen. Aber ich laufe über die Oberbaumbrücke, wo am 10. November 1989 meine Geschichte mit dem Westen begann, als ich von der Menge rückwärts nach Kreuzberg gedrückt wurde. Ein Zurück gab es nicht mehr, Platzangst hin oder her. Über mir donnert die U-Bahn, die hier eine Hochbahn ist, in den Nischen der Brücke knutschen die Liebespaare, singen Straßenmusiker, versuchen Obdachlose, ihre Zeitungen loszuwerden.
In die Fahrbahn der Brücke wurden bei der Sanierung in den neunziger Jahren Straßenbahngleise eingelassen. Wann wieder eine Straßenbahn fahren wird, steht in den Sternen, die hier, wenn hinter dem Fernsehturm die Sonne untergegangen ist, in der Nacht gut zu sehen sind.
Vladimir Nabokov schrieb in seiner Erzählung Berlin, ein Stadtführer : »Die Pferdestraßenbahn ist verschwunden, die Elektrische wird verschwinden und ein exzentrischer Berliner Schriftsteller in den zwanziger Jahren des einundzwanzigsten Jahrhunderts, der unsere Zeit schildern möchte, wird in ein historisches Technikmuseum gehen und dort einen hundertjährigen, gelben, klobigen Straßenbahnwagen mit altmodisch geschwungenen Sitzen ausfindig machen und in einem historischen Trachtenmuseum eine schwarze Schaffneruniform mit blanken Knöpfen. Dann wird er nach Hause gehen und eine Beschreibung Berlins in vergangenen Zeiten zusammenstellen. Alles, jede Einzelheit wird dann Wert und Bedeutung haben: die Schaffnertasche, die Reklame über dem Fenster, die besondere Schüttelbewegung, die sich unsere Urenkel vielleicht vorstellen werden – alles wird geadelt und gerechtfertigt sein durch sein Alter.« Bis dahin ist noch etwas Zeit. Ich renne die Warschauer Straße hinauf, um die M10, die dort zur Abfahrt bereitsteht, zu bekommen.
Endhaltestelle
Bielefeld-Verschwörung
Bielefeld, Nordrhein-Westfalen
E s war einmal eine sogenannte kleine Großstadt an der ICE -Strecke zwischen Hannover und Köln, genauer gesagt, am Nordende eines Quertals des Teutoburger Waldes, die litt darunter, dass sie nicht besonders schön und auch nicht sehr bedeutend war. Es gab sogar Menschen, die behaupteten, eine Stadt namens Bielefeld existiere gar nicht.
Bauen wir doch eine U-Bahn, sagten sich die Stadtverordneten, dann sind die Bürger nicht so deprimiert, denn sie müssen die Innenstadt nicht mehr sehen und können sich außerdem wie richtige Großstädter fühlen. Gesagt, getan, aber es dauerte dreizehn Jahre, ehe 1991 der Tunnel eröffnet werden konnte. Es reichte auch nur für vier Stationen unter der Erde, und so gehörte, obwohl ich nicht über U-Bahnlinien schreibe (weswegen Rom, Paris und München in diesem Buch nicht vertreten sind), Bielefeld zu den Orten, die ich besuchte, denn eine Bahnlinie, bei der vier Stationen unter und sechs über der Erde sind, ist doch eher eine Straßenbahn als eine U-Bahn. Die Bielefelder nennen sie der Einfachheit halber Stadtbahn.
Im Wettbewerb um die originellste Abkürzung von Verkehrsbetrieben jedenfalls hat Bielefeld mit moBiel schon mal einen vorderen Platz.
Die Linie 4 beginnt als Straßenbahn am Ende der Fußgängerzone neben einem äußerst imposanten Bau, der sich in den Vordergrund drängt und das Alte Rathaus noch älter aussehen lässt. Dabei sind beide Gebäude im selben Jahr, 1904, gebaut. Das Stadttheater ist ein schöner, wenn auch ein leicht überladener Jugendstilbau, als hätten sich die Bielefelder Bürger gesagt: Wenn wir schon ein Premierenabonnement haben und uns dafür schick machen müssen, soll auch unser Theater was hermachen. Es wirbt über dem Hauptausgang der Bahnhofshalle mit dem Spruch »Alles echt«. Ist das ein erster Hinweis auf die Bielefeld-Verschwörung? Im Internet jedenfalls wird behauptet, alles, was wir über Bielefeld wissen, sei Teil einer Verschwörung. Es gäbe die Stadt gar nicht, nirgends. Was natürlich auch hieße, dass alles, was ich hier sehe, Fake ist wie in der Truman Show , wo der Held nur durch Zufall erfährt, dass er in einer gigantischen Kulisse lebt. »Alles echt« könnte natürlich auch heißen, dass das Theater einem gewissen
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