Mit der Linie 4 um die Welt
niedrig gelegenen Straßen immer wieder überschwemmt. Heute liegt der Fluss irgendwo hinter den Häusern, erst in Pieschen wird man ihn von der Straße aus sehen. Die Gegend ist bis zur Leipziger Vorstadt geprägt von sanierten oder verbarrikadierten, meist mehrgeschossigen Mietshäusern, kleineren Betrieben und ehemaligen Gastwirtschaften, deren Geschichte oft bis in die Zeit vor der industriellen Entwicklung reicht, als die Dresdner hier zur gepflegten oder ungepflegten Sommerfrische mit Weinausschank fuhren. Ein Haus fällt besonders ins Auge, weil die Fassade mit einem Spruchband verziert ist, dessen Inhalt einer eventuellen Kritik an der Jugendstilarchitektur gleich den Wind aus den Segeln nimmt: »Wer dieses Haus jetzt tadeln will, der stehe nun ein wenig still und denk in seinem Herzen frei, ob er ganz ohne Tadel sei.« Ähnliche Sprüche könnte man sich durchaus auch an einigen der neuen Bauten zwischen Prager Straße und Altmarkt vorstellen. Hier an der Einmündung der Kolbestraße baute 1899 der gemeinnützige Dresdner Spar- und Bauverein. aussteigen einsteigen. Nicht weit von hier ist einer der letzten Betriebe, die die Währungsunion 1990 überlebt haben, die Firma Li-iL, die Gesundheitsbäder und Hustensalben wie Tussidermil herstellt. Es ist erstaunlich, dass es nicht ein klitzekleines bisschen nach Latschenkiefer oder Eukalyptus riecht. Bevor Li-iL 1922 in die Villa an der Leipziger Straße einzog, war es eine Gaststätte mit dem Namen Waldvilla. Von Wald ist weit und breit nichts mehr zu sehen. Man kann sich angesichts der fast leeren Bahn nur schwer vorstellen, wie voll es vor hundert Jahren am Wochenende gewesen sein muss und wie lustig oder auch aggressiv am Ende des Tages, wenn die Ausflügler wieder nach Hause wollten. Fast alle der zahlreichen Ball- und Gasthäuser mit großen Sälen an der Leipziger Straße mussten im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts geschlossen oder umgewidmet werden. Nur das Ballhaus Watzke in Altpieschen hat nach der Wiedervereinigung eine Renaissance erlebt. Zuvor diente es jahrzehntelang als Textillager.
Das Ballhaus Watzke hatte mehr Glück als das schöne alte Micktener Straßenbahndepot, von dem bis in die dreißiger Jahre auch die Lößnitzschmalspurbahn abging; jahrelang stand es ungenutzt, verkam zu einer Ruine, bis es 2009 von einer Betreibergesellschaft zu einem Einkaufszentrum umgebaut wurde. Das Gebäude wurde so gerettet, allerdings zum Nachteil der kleinen Geschäfte an der Leipziger Straße, die schon von dem in den neunziger Jahren errichteten Elbcenter an der Ecke zur Bürgerstraße Konkurrenz bekommen haben. Viele stehen heute leer und verleihen der Straße trotz all der sanierten Gebäude auf manchen Abschnitten etwas Trostloses. Nur in die Bahn kommt etwas Bewegung. einsteigen aussteigen.
An der Haltestelle Oschatzer Straße drängt sich rechts die Elbe mit ihren Auen ins Bild. Dahinter die Altstadt-Silhouette mit Schloss, Hofkirche, Frauenkirche und etwas weiter rechts die Zigarettenfabrik Yenidze, deren Gebäude an eine Moschee erinnert.
Eine Haltestelle weiter, am Alexander-Puschkin-Platz in Pieschen, an der Grenze zur Leipziger Vorstadt, beginnt Anfang der achtziger Jahre meine Dresdner Geschichte. Hier bin ich manchmal ausgestiegen, wenn das Wetter zu schlecht war, um vom Bahnhof Dresden-Neustadt bis zu dem Wohnhaus einer Freundin auf dem Industriegelände an der Leipziger Straße, gleich hinter den Gleisen, zu laufen. Das Gelände war bis 1907 der zentrale Schlachthof der Stadt gewesen, aber das wusste ich damals nicht. Meine Freundin wohnte in einem nach dem Krieg nur notdürftig zu einem Wohnhaus umgebauten Verwaltungsgebäude. Die Wohnungen hatten keinen Wasseranschluss, und die Toilettenanlage war am Ende eines langen Flurs. Dafür war das Dach undicht und blieb es viele Jahre. Aber der Blick in den Süden auf die Elbwiesen, die bei Hochwasser vollliefen, entschädigte für alles. Im Sommer saßen die Mieter wie so oft in Dresden vor dem Eingang in einem improvisierten Garten bei Bier und Klatsch.
Nebenan befand sich eine Porzellan- und Keramikfabrik, im Vorgarten lagen zerschlagene Toilettenbecken. Es gab keine Erinnerung daran, dass sie, ehe die Fabrik volkseigen wurde, eine Niederlassung der berühmten Firma Villeroy & Boch gewesen war, die in der Bautzner Straße den laut Guinness-Buch der Rekorde schönsten Milchladen der Welt mit Kacheln ausgestattet hatten. Um zu Pfunds Molkerei zu kommen, musste man in den achtziger Jahren an der
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