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Mit der Linie 4 um die Welt

Mit der Linie 4 um die Welt

Titel: Mit der Linie 4 um die Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
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Wenige Jahre später wird er, der Vater des Erzählers, von der Straßenbahn ab- und in die Wehrmacht eingezogen, mitsamt seiner Taschenuhr, die er für fünfundzwanzig Jahre Betriebszugehörigkeit erhalten hat. Als der Vater aus dem Krieg wiederkommt, wird ihm erzählt, dass im Februar 1945 Menschen im Feuersturm von den Brühlschen Terrassen sprangen und wie Fackeln auf der Elbe weiterbrannten. Die Schienen sind nicht mehr da und die Straßenbahnwagen mit den Insassen, die es nicht in den Luftschutzkeller schafften, ausgebrannt. Außerdem dürfen jetzt nach dem Krieg auch Frauen Straßenbahnen lenken.
    Der Genauigkeit halber muss ich erwähnen, dass der Vater des Erzählers Schaffner auf der Linie 3 war. Ein Vater, der zum Wilden Mann fährt, das klingt besser als Radebeul, außerdem fuhr die 4 von 1933 bis 1942 nur als Krankenhaussonderlinie und dann bis 1946 gar nicht mehr. Die Erzählung Eberhard Panitz’ aber wird von einer Imagination getragen: Der tote Vater begegnet dem Sohn auf einer Fahrt mit der 4 durch Berlin, wo der Sohn längst wohnt. Vladimir Nabokov hat in seiner Erzählung Berlin, ein Stadtführer über die Hände des Schaffners geschrieben: »Sie arbeiten so flink wie die eines Pianisten, aber sie sind nicht schlaff und schweißig und haben auch keine weichen Nägel, sondern sind so grob, dass einen eine Art moralisches Unbehagen überkommt, wenn man ihm Kleingeld in die Hand schüttet und dabei die Haut berührt, der ein derber Chitinpanzer gewachsen zu sein scheint.« Die Bahn hält am Theaterplatz. einsteigen aussteigen . Zwinger, Semperoper und Grünes Gewölbe, Schloss und Albertinum, Brühlsche Terrasse und Taschenbergpalais, das Faltblatt der »Kultourlinie« hat gar nicht genug Platz für alle die Sehenswürdigkeiten, die sich an einer Stelle versammeln. Die Straßenbahn muss hier sehr langsam fahren, weil immer ein Touristenpaar, meist jenseits der sechzig, auf den Schienen steht und den Baedeker mit der Wirklichkeit vergleicht.
    Postplatz. einsteigen aussteigen . Die 4 hat keine Tradition als die 4, dazu hat sie zu oft die Strecke gewechselt. Eine Konstante war einzig der Postplatz, über den kam sie fast immer. In der Nachkriegszeit war er eine leere Fläche mit Kiosk, im Hintergrund der imposante Bau des Theaters, der den Zwinger fast zu erdrücken schien. »Nachdem die Leichen verbrannt worden waren und die Trümmer geräumt, war Dresden eine Stadt ohne Mitte, eine Stadt der Außenbezirke, eine Stadt um die Leere herum«, schreibt Gregor Kunz. Die 4 fährt die Wilsdruffer Straße entlang, die als Ernst-Thälmann-Straße Aufmarschplatz für Großkundgebungen in der Nachkriegszeit war. Die neue sozialistische Stadt sollte den Verlust des barocken Dresdens wettmachen. Das gelang nicht, aber es hätte schlimmer kommen können. Auch nach der Wende gab es Bausünden genug. Eine ist der Haltestellenkomplex am Postplatz, »neben dem der berühmte Zwinger wirkt wie ein Lustschloss für Liliputaner«, wie Jens Wonneberger in seiner Heimatkunde Dresden schreibt. In Gregor Kunz’ Essay heißt es: »Viele Dresdner sind Architekten oder wenigstens Gärtner, mit einer so heimlichen wie ungeteilten Liebe zu barocker Pracht und zu biedermeierlicher Idyllik. Die Moderne und Postmoderne treten hinzu mit konfektionierten New York- als auch Baumarktzitaten, schüchtern und flegelhaft und undimensioniert, als modische Anschaffung und manifeste Gewalt der Ökonomie.« Letzteres trifft auf den Altmarkt zu, der mit allerlei Nachwende-Scheußlichkeiten zugebaut ist. Als ich dort vorbeifahre, ist gerade Weihnachtsmarkt, der die Gegensätze abmildert, auch mithilfe von Glühwein mit Schuss.
    Zwischen Postplatz und Pirnaischem Platz wird die Bahn zum ersten Mal richtig voll. Gedrängel. einsteigen aussteigen . Eine Frau schnauzt ein Kind in breitestem Sächsisch an: »Du gommst schon widda raus, auch wenns enge ist. Aus deiner Mudder bisde doch oach rausgegommen.« Inzwischen wird die Gegend östlich des Pirnaischen Platzes langsam wieder verdichtet, aber damals, als wir in den achtziger Jahren in Richtung Blaues Wunder fuhren mit der 4, die noch in Pillnitz endete, mussten wir erst über die leeren Flächen. Und jedes Mal waren wir froh, nicht draußen im Wind zu stehen, wo einem der Spruch »Der Sozialismus siegt« auf dem Hochhaus wie Hohn vorkam.
    Wir kannten uns aus mit zerstörten Städten. Man musste nur an der Grasnarbe kratzen, und schon kam das Grauen zutage. Städte aus Stein, mithilfe von Luftminen

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