Mit der Linie 4 um die Welt
alljährlich ab Oktober Bestimmungsort für Tausende von Briefen an den Weihnachtsmann. Himmelsthür hat heute nur noch einen Postshop bei Polstermöbel Griese. Der Weihnachtsmann von Himmelsthür, ein pensionierter Postbeamter, sitzt in einem Nebengebäude der Hauptpost von Hildesheim und leitet fünf Engel an, die angeblich jeden der fünfzigtausend Briefe beantworten.
Von der Melancholie
eines Ikarus-Busses am Strand
des Marmarameers
Istanbul, Türkei
M armarameer. Ein Wort, als wäre es nicht von dieser Welt. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich es zum ersten Mal gehört habe. Es muss in meiner Kindheit gewesen sein, als jeder Ort fern von Magdeburg etwas Magisches hatte. Nicht von dieser Welt. Nicht von meiner kleinen Welt. Genau wie Byzanz oder Konstantinopel oder Istanbul, drei Städtenamen, die ich lange nicht zusammenbrachte. Eine Stadt auf den Trümmern mehrerer Reiche, die nichts Reales hatte.
Dort, wo der Bosporus ins Marmarameer übergeht, verbinden mehrere Schiffslinien den europäischen mit dem asiatischen Teil Istanbuls. Ich hatte mir gewünscht, dass diese Fähren nummeriert sind. Mein Traum war, den ganzen Tag mit der Fährlinie 4 auf dem Marmarameer hin- und herzufahren, mit Blick auf die Stadt, das Wasser und das Treiben der Leute bei der Überfahrt. Stattdessen wechsle ich mehrmals mit der Fähre Eminönü-Kadıköy von der europäischen auf die asiatische Seite, um dort, in Kadıköy, mit dem Bus Nr. 4 zu fahren. Auf der europäischen Seite gibt es eine Straßenbahnlinie 4, die Sulthanamet mit den Außenbezirken verbindet, aber es hat seinen Reiz, in Asien zu sein, auch wenn es kein bisschen nach Asien aussieht und hier, anders als in anderen asiatischen Gegenden, die 4 keine Pechzahl und deshalb auch nicht in der Liste der Linien ausgespart ist.
© Annett Gröschner
Im Marmarameer schwimmen Feuerquallen dicht an dicht, und die Farbe und Trübe des Wassers lädt nicht zum Baden ein. Große Schiffe auf der Ost-West-Linie durch den Bosporus zwischen Odessa und Alexandria kreuzen den Weg der Fähren.
Schon von Weitem ist ein der asiatischen Seite etwas vorgelagertes imposantes Gebäude zu sehen. Es ist der Bahnhof Haydarpascha, Ausgangspunkt der Bagdadbahn, ein 1908 von deutschen Architekten und mit Unterstützung der Firma Philipp Holzmann auf Eichenpfählen errichtetes Gebäude, das wie eine riesige eklektizistische Kleckerburg im Wasser thront. Leider ist der Bahnhof inzwischen vom Verkehr abgeschnitten, nur wenige Fähren halten noch hier. Das Dachgeschoss ist ausgebrannt. Demnächst soll aus ihm eine Mall mit Hotel werden, aber angesichts des traurigen Zustandes wird den Bauherren sicher noch etwas einfallen, damit das Gebäude einstürzt, bevor es aufwendig und teuer saniert werden kann. Hinter dem Bahnhof liegt das Hafenbecken von Kadıköy.
Ein Strom von Menschen verlässt an der Anlegestelle die Fähre, die ersten, noch bevor die Hafenarbeiter die Gangway zwischen Kai und Schiff ausgefahren haben. Die Passagiere springen über den Spalt. Auch ich werde dazu gedrängt, um den Verkehr nicht aufzuhalten. Ich tue es mit dem Kribbeln im Bauch, ich könnte abstürzen und zwischen Schiffsbauch und Kaimauer zerquetscht werden, so wie es Orhan Pamuk in seinem Erinnerungsbuch Istanbul über den recht gut aussehenden Matrosen Dobrilowitsch erzählt, der sich als Mitarbeiter der Istanbuler Dampfschifffahrt am 18. Dezember 1864 an der Anlegestelle Kabataş zwischen dem Dampfer und der Kaimauer ein Bein eingequetscht hatte, »(der Alptraum aller Istanbuler), und als er gesehen habe, dass sein abgerissenes Bein mitsamt dem Stiefel ins Wasser gefallen sei, habe er lapidar gesagt: ›Mein Stiefel ist weg.‹« Koffer, Kisten und Kinder werden auf das Festland geschmissen, aber alles geht mit Selbstverständlichkeit und in relativer Geordnetheit vor sich. Normaler Alltag eben in der einzigen Stadt der Welt, die mit je einem Bein auf einem anderen Kontinent steht. Mit viel Wasser zwischen den Füßen.
Die Massen verteilen sich am Hafenvorplatz nach rechts und links, in Richtung Hauptverkehrsstraße oder Busbahnhof. Dort haben unzählige Linien ihre Endhaltestelle. Mehr als hundert Fahrzeuge warten dicht gedrängt an den verschiedenen Perrons. Es sind normale Stadtbusse und die Dolmusch genannten Kleinbusse, ein preiswerter Zwitter zwischen Taxi und Bus, die feste Richtungen haben und erst losfahren, wenn sie voll sind. Die 4 ist an keinem der Bussteige angezeigt. Ich irre zwischen den Bussen hin
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