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Mit der Linie 4 um die Welt

Mit der Linie 4 um die Welt

Titel: Mit der Linie 4 um die Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
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war der erste Bakkal in Istanbul mit Telefon, und der Besitzer nahm lange Strecken auf sich, um seine Kunden zu beliefern. Weil er bald mit einer kleinen Schiffsflotte Süßwasser auf die nahe gelegenen Prinzeninseln brachte, wurde er ein reicher Mann. Inzwischen ist das Gebiet fast so dicht bebaut wie die europäische Seite. Zwischendrin gibt es immer mal wieder ein altes Sommerhaus, das davon zeugt, dass hier die Reichen aus dem europäischen Teil ihre Sommerfrische verbrachten. Ein besonders schönes, nicht weit von der Fähre zu den Prinzeninseln entfernt, ist auf den zweiten Blick nur noch eine Ruine.
    Jörg Fauser, der Istanbul vorwiegend unter Drogen erlebt hat, beschrieb in seinem Roman Rohstoff die Stadt als Collage, deren Schnittlinien im Unendlichen verlaufen. Als Fauser 1968 hier lebte, hatte die Stadt so viele Einwohner wie Westberlin, um die zwei Millionen. Seitdem ist sie um das Achtfache gewachsen. Von den Prinzeninseln sieht der asiatische Teil wie ein großes steinernes Krokodil aus. Sollte es anfangen sich zu bewegen, tritt das ein, wovor man sich hier seit Jahren fürchtet, das angekündigte große Erdbeben, von dem niemand weiß, was es anrichten wird. Immer mal wieder bebt die Erde, dann laufen die Ängstlicheren in die Parks, die als Sammelplätze vorgesehen sind, und wenn es dann doch nur eine leichte Erschütterung gewesen ist, überspielen sie ihre Scham, dass die Angst sie nach draußen getrieben hat, mit einem Spaziergang. Ich frage mich, wie die wenigen Parks geschätzte fünfzehn Millionen Einwohner aufnehmen sollen.
    Am Ufer des Marmarameeres zieht sich eine kilometerlange Promenade entlang, einer der wenigen Orte in der Stadt, wo man ungestört Fahrrad fahren oder joggen kann. Überall auf der Strecke gibt es Fitnessgeräte unter freiem Himmel, oft von älteren Menschen genutzt, die hier an Arm- oder Beinpresse, Stepper oder Spinbike mit Blick aufs Meer ihre Beweglichkeit verbessern. In Bostancı, das nahtlos an Kadıköy anschließt, liegt der Fährhafen. Hier starten die Schiffe zu den Prinzeninseln ab. Wo Hafen ist, ist auch Geschäft. Anders als auf der Uferpromenade gibt es in der Nähe der Anlegestelle viele kleine Cafés, von denen aus man über das Marmarameer auf die Inseln schauen kann, die bis heute für den Autoverkehr gesperrt sind. Auch Busse gibt es nicht, nicht einmal die Dolmuschs. Man bewegt sich mit Pferdewagen oder Mountainbikes fort, an wunderschönen Holzhäusern vorbei, von denen die meisten auch schon bessere Zeiten gesehen haben.
    In Alt-Bostancı ist die Endhaltestelle der Ringlinie. Der Fahrer hat hier eine Ruhepause. Wir wechseln den Bus. Diesmal ist es ein nagelneuer aus türkischer Produktion, privat betrieben, der im Auftrag der Istanbuler Verkehrsbetriebe auf eigene Rechnung unterwegs ist, wie es seit einigen Jahren üblich ist, um dem gestiegenen Verkehr Herr zu werden. Die Busse haben ein modernes Überwachungssystem an Bord. Wenn die Fahrer zu früh fahren, werden sie bestraft. Trödeln sollten sie auch nicht. Eine Zeit lang wurden die Privaten, die auf viele Fahrgäste angewiesen sind, von den Busfahrern der städtischen Linie vorgelassen. Aber der Istanbuler Verkehr ist unberechenbar. Der Busfahrer putzt seine Scheibe sehr gründlich, ehe er sich wieder in den Nachmittagsverkehr begibt. Schon eine Haltestelle weiter wird es voll. Der Bus biegt in die Bagdadstraße ein, die er die volle Länge abfahren wird.
    Anders als die Söğütlüçeşme, die Haupteinkaufsstraße am Hafen, die traditionelle, etwas verstaubte Kleidung und Waren des täglichen Bedarfs anbietet, ist die Bagdadstraße mondän. Filialisten der teuersten Bekleidungs- und Automarken residieren in modernen Gebäuden, dazwischen Cafés, Bars und Restaurants. Hier ist Istanbul viel europäischer als auf der europäischen Seite. Neun Kilometer lang ist die Straße, drei Fahrbahnen in Richtung Hafen. Im Stoßverkehr des Nachmittags ist sie von Taxen, Bussen und teuren Autos verstopft, die aber auch nur im Schritttempo vorankommen. Auf den breiten Gehwegen schlendern Frauenpaare, große Papiertüten teurer Marken in der Hand. Wer hier einkauft, hat eine Kreditkarte dabei. Kopftücher tragen nur die Frauen, die den anderen den Dreck wegmachen, wie zwei Roma, die, dünne Damenzigaretten im Mundwinkel, ihren zum Müllwagen umgebauten Golfcaddy in einem Affentempo haarscharf am Bus vorbeilenken. Besonders seltsam erscheint hier eine Gruppe von Indianern in vollem Federschmuck, die auf dem Gehweg

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