Mit der Linie 4 um die Welt
und her, immer auf der Hut, nicht von einem von ihnen angefahren zu werden. Es scheint keine Ordnung zu geben, jedenfalls nicht für mitteleuropäische Augen. Der Dispatcher in seinem kleinen Häuschen am Rand des Geschehens braucht eine Weile, ehe er versteht, was ich suche. »Die 4, die hält hier nicht, die fährt zweihundert Meter entfernt, am Theater.«
Das Theater ist am Hafenplatz gleich gegenüber der Anlegestelle. Nebenan gibt es eine kleine Grünanlage. Mittendrin ein Denkmal für Atatürk, das an ähnliche Bronzeplastiken von Führern in ehemals sozialistischen Ländern erinnert. Der Kunstbegriff unterscheidet sich kaum, der Personenkult ist auch nicht kleiner. Atatürk zeigt, leicht erhöht, zwei europäisch gekleideten Kindern Buchstaben auf einer Tafel. Die Kinder schauen sehr aufmerksam. Zu den Füßen des Denkmals zanken sich lauthals mehrere Frauen einer Gruppe von Roma, die unter dem einzigen Baum Pause von ihrer Arbeit machen. Sie verkaufen Blumen, die in großen Vasen am rückwärtigen Teil des Theaters breit verteilt auf dem Fußweg stehen. Auch die Müllabfuhr ist in ihrer Hand. Ab und an kommt eine Frau mit einem Müllsack eine Blumenverkäuferin besuchen, und sie unterhalten sich eine Weile.
Der Bus der Linie 4 hält, gerade als eine der Frauen einem Jungen einen Schuh an den Kopf zu werfen versucht. Der weicht auf die Straße aus, der Busfahrer muss bremsen. An der Haltestelle steht schon eine kleine Schlange von Leuten. Angezeigt ist hier keine einzige Buslinie, auch einen Fahrplan gibt es nicht.
Ich bin mit Bora verabredet, mein Führer durch den Verkehr Kadıköys. Er ist Deutschtürke und lebt und arbeitet seit drei Jahren in Istanbul. Wie viele junge Europäer ist er sein persönlicher kleiner Mischkonzern aus Computerarbeiten, Werbung, Beratung und Stadtführung. Inzwischen hat er seinen Arbeitsplatz in seine Wohnung verlegt. Istanbul ist eine anstrengende Stadt, wenn man jeden Tag zur Arbeit und zurückfahren muss. Der Ausbau der Infrastruktur hat mit dem Wachstum nicht Schritt halten können. Zwar gibt es inzwischen Metrobusse, die auf einer eigenen Spur fahren wie Straßenbahnen, aber es sind nur wenige Linien, und die 4 gehört nicht dazu. Sie hat hier am Hafen ihre Endhaltestelle, wenn man überhaupt von einer solchen reden kann, denn die 4 ist eine Ringlinie, die in achtzig Minuten Kadıköy umrundet. So steht es jedenfalls in dem Fahrplan auf der Website der Istanbuler Verkehrsgesellschaft IETT . Die reale Fahrzeit ist am Nachmittag viel länger, denn auf den Hauptverkehrsstraßen Kadıköys kommt man nur im Schritttempo voran. Aber das weiß ich noch nicht, als der Bus vor mir hält. Ein Blick auf die Front, und ich erinnere mich an die Sardinenbüchsenfahrten mit dem 57er-Bus von der Berliner Humboldt-Universität in den Prenzlauer Berg, als man dicht an dicht in den Ikarus-Bussen stand, was besonders im Sommer unangenehm war. Die Fahrzeuge sind hier nicht eierschalenfarben-orange, sondern dunkelrot-weiß, aber ohne Frage Ikarus-Busse aus ungarischer Produktion. In Istanbul fahren noch 1291 von ihnen, lese ich später im Internet. Sie wurden Anfang der achtziger Jahre im damals sozialistischen Ungarn gekauft. Anders als in Ostdeutschland und Berlin, wo sie längst nicht mehr im Linienverkehr eingesetzt werden, sind sie hier noch sehr lebendig. Laut, schwer zu lenken, mit durchgesessenen Sitzen und ohne Klimaanlage. Und ohne Nummernschild. Bora erzählt, dass es irgendwelche steuerlichen Probleme gegeben habe, sodass die Busse keine regulären Nummernschilder bekamen, sondern nur Zahlen, die am Heck unter den Fenstern aufgemalt sind.
Egal, wie alt der Bus ist, am Eingang gibt es immer eine hochmoderne Ticketanlage, an die man eine elektronische Karte oder einen Metallchip halten muss, von denen dann ein Obolus für die Fahrt abgebucht wird. Ist das Geld abgefahren, lädt man die Karte oder den Chip an den Automaten wieder auf. Am Anfang, als das System eingeführt wurde, haben die Busfahrer noch Geld angenommen von Leuten, die das System nicht kannten oder ablehnten, und die Fahrt von ihrer eigenen Karte abgebucht, erzählt Bora. Weil es aber zu Unregelmäßigkeiten kam, ist ihnen inzwischen die Annahme von Geld streng verboten. Jetzt fragen die Leute beim Einsteigen, ob einer der Fahrgäste noch Guthaben habe. Es meldet sich immer einer, der seine Karte nach vorn zum Automaten durchreicht und Geld und Karte zurückbekommt.
Es piept zweiundzwanzig Mal, dann fährt der Bus
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