Mit der Linie 4 um die Welt
die Bude ihrem Schicksal überließ. Der Bus Nr. 4 hat hier am Ortsausgangsschild seine Endhaltestelle, aber kein Fahrgast steigt aus, um den Ausblick zu genießen. Itzum ist heute ein Ortsteil von Hildesheim, nachdem es über Jahrhunderte Besitzung der Kirche war.
In den achtziger Jahren hatte ich eine Freundin, die von allen nur Hilde genannt wurde. Irgendwann in einer bierseligen Nacht hatten wir uns vorgenommen, dass der erste Ort im Westen, den wir als Rentnerinnen aufsuchen wollten, Hildesheim sein sollte. Ich war mit Hilde nie in Hildesheim, obwohl es uns schon mit Mitte zwanzig möglich gewesen wäre. Unsere Wege trennten sich vorher, und es sollten fünfzehn Jahre vergehen, bis ich über einen kleinen Umweg über Russland in diese Stadt kam.
© Annett Gröschner
Itzum liegt an der mittelalterlichen Heer- und Handelsstraße, die von Hildesheim nach Goslar führte, aber schon Ende des siebzehnten Jahrhunderts ihre Bedeutung verlor. Es ist kaum Verkehr auf der Hauptstraße, das Dorf scheint in tiefen Schlaf gefallen zu sein, aber wahrscheinlich arbeiten die meisten Bewohner in der Stadt. Man könnte, wenn man wollte, von der Straße essen, so einen aufgeräumten Eindruck macht es. Die Dorfkneipe heißt Poseidon und ist griechisch.
Der Bus fährt von hier, dem südöstlichsten Zipfel, über die Innenstadt bis in den Nordwesten und – Knockin’ on Heaven’s Door – bis zum Rand von Himmelsthür, an endlos scheinenden Eigenheimsiedlungen vorbei. Auf der rechten Seite erstreckt sich die Marienburger Höhe mit Galgenberg und Brockenblick. Der Bus hält vor der Universität.
Um vom Bus zum Campus zu gelangen, müssen die Studenten erst durch ein Einkaufszentrum. Im Internet wird jede Minute eine neue Webcamaufnahme vom Innenhof übertragen. An diesem Montag ist es in Hildesheim leicht sonnig, und man kann am Horizont die Kirchtürme sehen.
Vom Gesichtspunkt der ästhetischen Kommunikation, die hier auch gelehrt wird, ist die Universität architektonisch weder besonders ästhetisch noch kommunikativ. Die Gebäude sind nach Buchstaben geordnet, und bei der Suche nach einem bestimmten Vorlesungssaal kann man sich schnell verlaufen. Aber es gibt hier Professoren, die bei ihren kulturwissenschaftlichen Vorlesungen Jungsbands spielen lassen, die das Thema musikalisch vertiefen. Die Professoren müssen dann nicht so viel reden und können zeigen, dass sie sich auskennen in der Jugendkultur. In diesem Semester werden die Studenten mit Digitalkameras losgeschickt, um das Hildesheimer Leben festzuhalten. Zum Beispiel im Bus, wofür auch ein Schwarz-Weiß-Fotoapparat ausreicht. Hildesheimer Busbenutzer tragen im Winter gedeckte Kleidung. Jedes tiefdunkle Rot, Grasgrün oder Meeresblau tut den Augen weh, weil es so ungewöhnlich ist.
Es ist fast unmöglich, die Buslinie abzulaufen, denn jeder, der die Stadt durchquert, muss das Netz von Schnellstraßen nutzen, das Hildesheim unschön zerschneidet – eine Errungenschaft der Nachkriegszeit.
Vor dem 22. März 1945 war Hildesheim eine leidlich beschädigte Stadt mit tausendfünfhundert Fachwerkhäusern, danach gab es nur noch die Straßennamen und zwischen den Bergen von Schutt eine Ahnung einstiger Straßenverläufe. Die Einkaufsstraßen wurden wieder vollständig aufgebaut, selbstverständlich mit diesen Es-soll-alles-wieder so-gemütlich-werden-wie-vorm-Krieg-Häusern. An der Schuhstraße, von wo aus man in die Fußgängerzone Hildesheims gelangt, ist der Treffpunkt aller Buslinien der Stadt.
»Wie kommt Hilde heim?«, fragt eine Reklame an einem vorüberfahrenden Bus und gibt selbstverständlich gleich die Antwort: »Mit dem neuen Abendliniennetz und dem Anruf-Sammeltaxi.« Wenn die Kaufhäuser schließen, fahren die Busse in Hildesheim nur noch im Halbstundentakt. Bis dahin dauert es noch zwei Stunden. Seniorinnen mit Tüten steigen zu, ihnen folgen Mütter mit Kinderwagen, bis der Platz nicht mehr reicht. »Die biologische Uhr tickt«, sagt eine Frau zu ihrer Nachbarin und schaut dabei leicht abwesend auf die Kinderwagen. Der Bus fährt vorbei an Dom und Volkshochschule, an einer alten Wassermühle und einem schicken neuen Museumsbau entlang über den Fluss Innerste, hinter dem die Innenstadt zu Ende ist. Die Passagiere werden einer nach dem anderen auf die Straße entlassen, bis der Bus wieder so leer ist wie in Itzum.
Die Endhaltestelle der Linie 4 liegt am Rande von Himmelsthür. Wie sein östliches Pendant Himmelpfort im Brandenburgischen ist Himmelsthür
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